Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24

zm 110, Nr. 23-24, 1.12.2020, (2323) ZM-SERIE: TÄTER UND VERFOLGTE IM „DRITTEN REICH“ Wie gehen wir mit diesem Wissen um? Matthis Krischel In diesem Beitrag werden die Lebensgeschichten von 17 Verfolgten in den Kontext der Erinnerungskultur in der deutschen Medizin und Zahnmedizin eingebettet. Dabei sollen noch einmal zentrale Punkte der historischen Forschung zu Verfolgten in der Zahnmedizin deutlich gemacht und abschließend einige Fragen aufgeworfen werden, die die organisierte Zahnärzteschaft in Deutschland für sich selbst beantworten muss – nach dem Platz, den das Wissen im Gedächtnis der deutschen Zahnärzteschaft einnehmen soll, der Benennung von Preisen und Institutionen nach belasteten Personen und dem Andenken an Verfolgte. Ä rzte und Zahnärzte sollten mehr über den Nationalsozialismus wissen“, forderte Felix Klein, Beauftragter der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, im Sep- tember 2020 in den zm. 1 Die Ergebnisse des gemeinsam von BZÄK, KZBV und DGZMK geförderten Aufarbeitungspro- jekts zur Zahnärzteschaft im National- sozialismus, das 2017 begonnen worden war, sind in diesem Jahr in einer 18-teili- gen Reihe einer breiten zahnärztlichen Öffentlichkeit in dieser Zeitschrift vorge- stellt worden. 2 Den Kern der Reihe bilden – eingerahmt von einem Einführungs- artikel zu Beginn und diesem Abschluss- beitrag – Biografien von Zahnärztinnen und Zahnärzten, Dentistinnen und Den- tisten, die in der Zeit des Nationalsozia- lismus entweder als Täter aufgetreten sind oder aus unterschiedlichen Gründen verfolgt wurden. Diese unterschiedlichen Lebensgeschichten stellen anschaulich dar, welche Rollen Zahnärzte in den 1930er- und 1940er- Jahren einnehmen konnten. Gleichzeitig deuten viele Biografien an, wie bis weit in die Nachkriegszeit mit dem National- sozialismus umgegangen wurde, etwa wenn belastete Personen ihre Karrieren fortsetzen konnten oder überlebende Verfolgte mühsam „Wiedergutmachung“ vor Gericht erstreiten mussten. Die Reihe von Biografien ermöglicht es nun, mehr über den Nationalsozialismus zu wissen und dieses Wissen mit konkreten Namen und Gesichtern zu verbinden. Im Jahr 2020 sind nur noch sehr wenige Überlebende des Holocaust in der Lage, als Zeitzeugen zu berichten. Ebenso gibt es nur noch ganz vereinzelt persönlich belastete Täter, die 75 Jahre nach Kriegs- ende noch am Lebens sind. Damit hat sich die Erinnerung an die Zahnmedizin im Nationalsozialismus endgültig vom sozialen Gedächtnis ins kulturelle Gedächtnis verschoben, das heißt, die Geschichte wird nicht mehr von Person zu Person weitererzählt, sie ist nun in Dokumenten – vor allem in Bildern und Texten – konserviert. 3 Erinnert wird an die (Zahn-)Medizin im National- sozialismus in formalisierter Weise. Ein Beispiel dafür ist der Herbert-Lewin-Preis für Forschung zur Rolle der Ärzteschaft in der Zeit des Nationalsozialismus, 4 an dessen Ausschreibung sich die Bundes- zahnärztekammer und die Kassenzahn- ärztliche Bundesvereinigung seit 2019 beteiligen. VOM SOZIALEN INS KULTURELLE GEDÄCHTNIS Vor einer Generation, als einige belastete Personen noch am Leben waren, aber auch, während ihre direkten akademischen Schüler leitende Stellen an Universitäten und in Standesorganisationen bekleide- ten, konnten noch explizite oder impli- zite Loyalitäten wirken und so eine kri- tische Aufarbeitung hemmen. Verfolgten Kolleginnen und Kollegen wurde dabei früher gedacht als Täter benannt und ihr Handeln problematisiert werden konnte. Eines der – seltenen – Beispiele für ein frühes Gedenken stellt etwa eine Reihe von Artikeln dar, die der in die USA ge- flohene Zahnarzt Hans Sachs 5 bereits 1966 in den zm veröffentlichte. 6 Fritz Witt (1887–1969) nahm offenbar nach der Gründung des Forschungsinstituts für Geschichte der Zahnheilkunde 1965/66 in Köln Kontakt zu mehreren vertriebenen Kollegen auf. Darauf deuten Mappen hin, die er anlegte 7 . Auf Witts Karriere in der Weimarer Republik, im Nationalsozialismus und in der Bundes- republik mit ihren Kontinuitäten, Brüchen und Widersprüchen hat Gisela Tascher hingewiesen. 9 Er war im „Dritten Reich“ zweiter Geschäftsführer des Reichsver- bands der Zahnärzte Deutschlands gewe- sen und hatte in dieser Funktion an der Verdrängung der jüdischen Kolleginnen und Kollegen mitgewirkt. In der Bundes- republik war er bis 1956 Geschäftsführer des Bundesverbands der Deutschen Zahnärzte, der Vorgängerorganisation der Bundeszahnärztekammer. Gleichzeitig hatte Witt vor 1933 eng mit dem Zahnmedizinhistoriker Curt Pros- kauer (1887–1972) zusammengearbeitet, der aufgrund seiner jüdischen Herkunft nach New York emigrieren musste. Zudem schloss das von Witt in Köln gegründete Forschungsinstitut an die Tradition des vor dem Krieg von Proskauer in Berlin gegründeten Reichsinstitut für Geschichte der Zahnheilkunde an. Während in den 1980er-Jahren die Auf- arbeitung der Zahnmedizin im National- 1 Prchala G (2020) (https://www.zm-online.de/archiv/2020/18/gesellschaft/aerzte-und-zahnaerzte-sollten-mehr-ueber-den-nationalsozialismus-wissen-1/) (18.11.2020); 2 Groß D, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (1–2), 24–27; 3 Zu diesem Abschnitt vergleiche Krischel M, Halling T (2020) Erinnerungsorte und Erinnerungskultur – Zur Karriere der „Memory Studies“ in der Medizingeschichte. Medizinhistorisches Journal 55 (3), 219–231; 4 Heidner D (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (1–2), 10–11; 5 Halling T, Krischel M (2020). Zahnärztliche Mitteilungen 110 (3), 150–153; 6 Sachs H (1966) Zahnärztliche Mittelungen 56, 86–92, 130–132, 183–187; 7 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mittelungen 110 (8), 836–838; 8 Tascher G (2012) Zahnärztliche Mitteilungen 102 (19 A), 2512–2518; GESELLSCHAFT | 81

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