Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24

zm 110, Nr. 23-24, 1.12.2020, (2325) nicht gleichzeitig auch aus rassistischen Gründen verfolgt wurden, scheint jedoch verhältnismäßig gering. Zu den weiteren Gründen für Verfolgung zählte auch sexuelle Orientierung, von mindestens elf Zahnärzten ist bekannt, dass ihnen deshalb die Approbation entzogen wurde, zusätzlich drohte ihnen Haft im Zucht- haus oder im Konzentrationslager. In einer solchen Verfolgungssituation sah Engelbert Decker (1889–1941) aus Ham- burg nur den Suizid als Ausweg. 14 Etwa zwei Drittel der Verfolgten konnten aus Deutschland fliehen, aber nur eine Minderheit der Emigranten konnte in ihren Zielländern wieder zahnärztlich tätig werden. In vielen Fällen verlief die Flucht über mehrere Etappen – wie etwa bei Jenny Cohen 15 (1905–1976) oder Ernst Hausmann (1906–1963). 16 Wer nicht rechtzeitig fliehen konnte oder wollte, wurde deportiert und in Ghettos, Konzentrations- oder Vernichtungs- lagern ermordet. Dies betraf etwa ein Viertel der verfolgten Zahnbehandler, darunter Waldemar Spier (1889–1945) aus Düsseldorf 17 oder Julius Misch (1874–1942) aus Berlin. 18 Etwa jeder 20. Verfolgte sah die „Flucht in den Tod“ (Suizid) als letzte selbstbestimmte Hand- lung, wie Therese Schwarz (1893–1943) aus Wiesbaden. 19 Bisher waren nur relativ wenige Biogra- fien von verfolgten Zahnärzten bekannt, darunter Größen des Faches wie Alfred Kantorowicz (1880–1962) und Hans Moral (1885–1933). Oft handelte es sich um akademisch tätige Zahnärzte. Im Rahmen der biografischen Reihe war es das Ziel der Autoren, diesen Kreis auszu- weiten und anhand der individuellen Lebensgeschichten von Männern und Frauen verschiedene Schicksale von ver- folgten Zahnbehandlern im National- sozialismus aufzuzeigen. Die erzählten Geschichten sind dabei immer individuell, es gibt jedoch für jeden Grund der Ver- folgung, für jeden Lebensweg, für jede Art den Lebensunterhalt zu verdienen und für jede gefundene neue Heimat viele ähnliche Geschichten. Die neben- stehende Tabelle gibt einen Überblick über die Verfolgungsgeschichten und Schicksale. DREI FRAGEN AN DIE ZAHNÄRZTESCHAFT Zum Ende der biografischen Reihe bleiben einige Fragen an die organisierte Zahn- ärzteschaft offen. Nun, da Zahnärzte an- hand von anschaulichen Vignetten die Lebensläufe von Kolleginnen und Kolle- gen kennengelernt haben, die im National- sozialismus zu Tätern wurden oder als „Opfer“ verfolgt wurden, wie geht sie mit diesem Wissen um? Und wie stellt sie sicher, dass dieses Wissen ein Teil des kulturellen Gedächtnisses der Zahn- medizin wird und bleibt? Hierzu möchte ich drei Fragen stellen, die von der orga- nisierten Zahnärzteschaft selbst beant- wortet werden müssen. Im besten Fall entsteht dazu eine breite Diskussion. 1.Welche Rolle sollte die Zahn- medizin im Nationalsozialismus in der zahnärztlichen Ausbildung spielen? Im Studium der Humanmedizin gibt es seit 2002 einen verpflichtenden Querschnitts- bereich „Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin“ und man wird heute kaum eine medizinische Fakultät in Deutschland finden, an der die Medizin im National- sozialismus nicht Lehrinhalt dieses Quer- schnittsbereichs ist. Die geplante, neue Approbationsordnung für Zahnärzte sieht ein neues Pflichtfach „Ethik und Geschichte der Zahnmedizin und Medi- zin“ vor. Welches Wissen über die Zahn- medizin im Nationalsozialismus sollte zum neuen Ausbildungskanon gehören? 2.Wen möchten sich Zahnärztinnen und Zahnärzte in Deutschland zum Vorbild nehmen? Die Diskussion um den Walkhoff-Preis, den die Deutsche Gesellschaft für Zahn- erhaltung nach den Erkenntnissen der Forschungsprojekts zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus umbenannt hat, zeigt, dass diese Gesellschaft sich den Nationalsozialisten Walkhoff nicht län- ger als Namensgeber für einen von ihr verliehenen Preis vorstellen konnte. 2005 wurde die Hermann-Euler-Medaille umbenannt, weitere eponyme Preise folgten. 20 Auch in Zukunft wird sich die organisierte Zahnärzteschaft fragen müs- sen, wer als Vorbild und Namensgeber dienen soll. 3.Wie soll in Zukunft an verfolgte Kolleginnen und Kollegen erinnert werden? Nur zwei im „Dritten Reich“ vertriebene Zahnärzte – Alfred Kantorowicz und Erich Knoche – wurden nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Ehrenmitglieder deutscher Zahnmedizinischer Fachgesell- schaften. 21 Einzelne Landeszahnärzte- kammern – wie die in Berlin – haben eine Tafel mit den Namen ihrer verfolg- ten, ehemaligen Mitglieder aufgestellt, die Landeszahnärztekammer Hamburg hat die Patenschaft für einen Stolper- stein für ein verfolgtes ehemaliges Mit- glied übernommen. Auch die Förderung des Forschungsprojekts zur Zahnmedizin im Nationalsozialismus hat dazu bei- getragen, dass viele bisher verborgene Biografien ans Licht und in den Druck gekommen sind – auch in dieser Zeit- schrift. Welche kreativen, zeitgemäßen Wege werden Mitglieder der zahnärzt- lichen Profession in Zukunft finden, um an ihre zwischen 1933 und 1945 diskri- minierten und verfolgten Kolleginnen und Kollegen zu erinnern und ihr An- denken zu würdigen? \ DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. 14 Krischel M, Bollmann U, Halling T (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (11), 1127–1128; 15 Krischel M, Halling T (2020) Zahnärztliche Mittelungen 110 (9), 922–924; 16 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mittelungen 110 (22), 2213–2215; 17 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (1–2), 30–32; 18 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (20), 1975–1977; 19 Halling T, Krischel M (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 110 (4), 304–307; 20 O.A. (2020) Zahnärztliche Mitteilungen 11 (18), 1704–1705; 21 Groß D, Wilms K (2019) Dossier 2: (https://www.bzaek.de/fileadmin/PDFs/fp/10_Dossier2_ Ehrenmitglieder_DGZMK-Praesidenten.pdf) (18.11.2020) GESELLSCHAFT | 83

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=