Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 4

zm 111, Nr. 4, 16.2.2021, (267) KOMMENTAR 1 Eine solche dienstliche Anordnung hält normativen Argumenten nicht stand G rundsätzlich ist zu unterstel- len, dass B. das Richtige tun möchte und nach seiner fes- ten Überzeugung handelt. Tatsächlich lassen sich drei Argumente benennen, mit denen sich sein Handeln prima vista begründen lässt: Da wäre zum ersten die Fürsorge- pflicht, die er gegenüber Mitarbeitern und Patienten empfindet: B. trägt Verantwortung für die Gesunderhal- tung seines Teams und seiner Patien- ten; wenn sich Dritte in seiner Praxis mit COVID-19 infizieren, muss er sich (gegebenenfalls juristisch) recht- fertigen. Zudem kann es aufgrund von Quarantänemaßnahmen zur Praxis- schließung kommen, was seinen legi- timen wirtschaftlichen Interessen zu- widerliefe und unter Umständen so- gar die zahnärztliche Versorgung ge- fährden könnte – wenn etwa mehrere Praxen der Region von derartigen Schließungen betroffen wären. Ein weiteres Argument von B. betrifft die Verantwortlichkeiten des medizi- nischen Personals: Wer im Gesund- heitsbereich arbeitet, trägt nicht nur Verantwortung für sich selbst, son- dern auch für seine Patienten. In Pra- xen Beschäftigte müssen nach dem Infektionsschutzgesetz die Weiterver- breitung von Krankheitserregern ver- meiden; insofern können für medizi- nisches Personal unter Umständen andere Regeln gelten als für nicht- medizinische Berufsgruppen. Das dritte denkbare Argument ist der „Präzedenzfall Masern“: Für Masern gibt es bereits eine Impfpflicht, die im Masernschutzgesetz verfügt ist. Demnach müssen auch Beschäftigte in Arztpraxen, Krankenhäusern oder bei Pflegediensten gegen Masern geimpft sein oder eine Immunität nachweisen, sofern sie nach 1970 ge- boren sind. Doch der Vergleich mit Impfungen gegen COVID-19 hinkt: Die Masern- impfung verhindert nachweislich in den allermeisten Fällen, dass der Geimpfte sich und andere ansteckt („sterile Immunität“). Mit jener Imp- fung gegen Masern schützt man also nicht nur sich selbst, sondern auch andere vor einer Infektion. Dieser Effekt ist bei der Corona-Impfung noch ungeklärt. Hier kann es sein, dass Geimpfte das Virus aufnehmen und weiterverbreiten. In diesem Fall wäre die Impfung keine Maßnahme, um Dritte zu schützen, sondern aus- schließlich eine Frage der persön- lichen Gesundheitsvorsorge – und dazu dürfen weder staatliche Autori- täten noch Arbeitgeber Vorschriften machen. Erst im Frühjahr 2021 sind erste Aufschlüsse in der Frage der „sterilen Immunität“ zu erwarten. Daher ist das Masernschutzgesetz mangels Analogie aktuell kein ge- eigneter Präzedenzfall. Damit weiten wir den Blick auf die allgemeine Rechtslage im Kontext von COVID-19: Derzeit besteht keine Impfpflicht und die Bundesregierung hat erklärt, an der Freiwilligkeit der Impfung festzuhalten. Eine obligate Impfung einzelner Personengruppen wäre allerdings theoretisch denkbar. Eine Grundlage hierfür wäre in § 20, Abs. VI des Infektionsschutzgesetzes zu finden. Dort heißt es: „Das Bun- desministerium für Gesundheit wird ermächtigt, durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates anzuordnen, dass bedrohte Teile der Bevölkerung an Schutzimpfungen [...] teilzunehmen haben, wenn eine übertragbare Krankheit mit klinisch schweren Verlaufsformen auftritt und mit ihrer epidemischen Verbreitung zu rechnen ist.“ Demnach könnte eine Impfpflicht mittels einerVerord- nung eingeführt werden; sie müsste aber gegen andere Rechte (zum Bei- spiel Freiheitsrechte der betroffenen Menschen) abgewogen und nach einer solchen ethisch-rechtlichen Güterabwägung schlussendlich für „angemessen“ erachtet werden. Doch selbst in einem solchen Fall wäre zu erwarten, dass der Staat eine derartige Rechtsverordnung sehr restriktiv handhaben würde. Am ehesten wäre dies noch für Arbeits- umgebungen zu begründen, die als Hotspots gelten, weil die Beschäf- tigten häufigen und engen Kontakt zu besonders Gefährdeten bezie- hungsweise COVID-19-Patienten ha- ben – etwa für Behandlungsteams auf PROF. DR. DR. DR. DOMINIK GROß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2 Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Foto: privat TITEL | 37

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