Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 4

zm 111, Nr. 4, 16.2.2021, (269) DIE PRINZIPIENETHIK Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instru- menten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die Fürsorge- Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinter- legt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte an- gesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patienten- autonomie, das Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz) und das Wohltuns- gebot (Benefizienz) – fokussieren aus- schließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Ge- samtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth KOMMENTAR 2 Ethisch problematisch ist das Vorgehen D ie vorliegende Falldarstellung greift eine Problematik auf, die derzeit gewiss viele selbststän- dige Zahnärztinnen und Zahnärzte als Arbeitgeber und nicht weniger Angestellte im Gesundheitswesen umtreibt – die Frage, wie sowohl das medizinische Personal als auch die Patienten effektiv vor einer Infektion mit dem Coronavirus geschützt wer- den können und inwieweit hierzu die seit kurzer Zeit verfügbaren Impfun- gen beitragen können. Auch wenn eine Impfpflicht derzeit nicht be- steht, können sich, wie im Fall des Zahnarztes B., aus ethischer Sicht Dilemmata ergeben, die sowohl den Zahnarzt als auch das Assistenz- personal und die Patienten betreffen. Bei der Betrachtung dieser viel- schichtigen Thematik ist die analoge Anwendung der Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress hilfreich, nach der das Nichtschadensgebot, das Wohltunsgebot, die Patienten- autonomie und das Prinzip Gerech- tigkeit gegeneinander abgewogen werden (siehe Kasten links). Im Mit- telpunkt stehen im vorliegenden Fall die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, die nicht bereit sind, in eine Impfung einzuwilligen, obwohl B. darauf dringt. Betrachten wir zunächst das Nicht- schadensgebot (Non-Malefizienz) : Die Intention von B., sich und sein Praxisteam impfen zu lassen, zielt auf verschiedene Effekte: Zum einen sieht er darin eine Möglichkeit, seine Patientinnen und Patienten, die zu einem nicht unerheblichen Teil den bekannten Risikogruppen angehören, angesichts der sehr hohen Inzidenz in seinem Landkreis zu schützen. Zum anderen könnte mit einer Im- munität möglicherweise auch die Ansteckungsgefahr des Personals un- tereinander wie auch durch Corona- positive Patienten vermindert wer- den, das heißt, dass es B. auch darum geht, Gefahr und Schaden von seinem Team abzuwenden. Obwohl noch nicht zweifelsfrei nachgewiesen, geht er davon aus, dass Geimpfte das Virus nicht weiterverbreiten oder dass zumindest mit der Immunisie- rung eine deutliche Reduzierung der Viruslast und der Möglichkeit einer Weiterverbreitung und Infizierung Dritter gegeben ist. B. setzt darauf, dass die stetigen Forschungen und der Wissenszuwachs, die in dieser Pandemie ständig im Fluss sind, diese Annahme bestätigen werden und er somit sowohl seine Patienten als auch sein Team schützt. Aber selbst wenn das Virus trotz Impfung übertragen werden kann, dient jene bei der gegebenen sehr hohen Expo- sition dem Schutz des Praxisteams vor Infektion und schweren, viel- leicht auch lebensbedrohlichen Krankheitsverläufen. Demgegenüber steht jedoch der mögliche Schaden, der durch Impfrisiken und -neben- wirkungen angerichtet werden könn- te. Dieser ist nach allen Informatio- nen aus dem Zulassungsverfahren und auch nach den bisherigen Erfah- rungen millionenfacher Impfungen OBERSTARZT PROF. DR. RALF VOLLMUTH Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam vollmuth@ak-ethik.de Foto: Bayer TITEL | 39

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