Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 4

zm 111, Nr. 4, 16.2.2021, (270) im In- und Ausland wesentlich gerin- ger zu bewerten als die Gefährdungen durch das Virus und COVID-19. Auch das Wohltunsgebot (Benefi- zienz) wird, hier in einem engen Kontext zum Nichtschadensgebot, durch eine Impfung berührt. So sind temporäre Störungen des Wohl- befindens durch Impfreaktionen wie Schwellungen und Schmerzen an der Einstichstelle und systemische Reaktionen wie Kopfschmerzen und Abgeschlagenheit nicht selten, je- doch kann man auch hier davon aus- gehen, dass diese vorübergehenden Symptome in keinem Verhältnis zu den Beeinträchtigungen durch eine Corona-Infektion stehen. Ein hohes Gut stellt die Patienten- autonomie dar, die bei dem Ansin- nen von B., das komplette Praxis- personal impfen zu lassen, zentral be- rührt ist. Dies umso mehr, als B. diese Entscheidung nicht der Freiwilligkeit seiner Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter überlässt, sondern den Impfun- willigen mit ernsthaften Restriktionen wie einer betriebsinternen Umset- zung oder letztlich gar dem Verlust des Arbeitsplatzes droht. Dieser Druck, den B. aufbaut, um sein Ziel zu errei- chen, ist zweifellos ein gravierender Eingriff in die Patientenautonomie, der tatsächlich nur bei einer sehr star- ken Gewichtung der Gegenargumente berechtigt sein könnte. Restriktionen im Sinne einer Duldungspflicht für bestimmte ärztliche Maßnahmen wie beispielsweise Impfungen sind – gesetzlich geregelt – in manchen Bereichen unserer Gesellschaft übri- gens durchaus gegeben. So schränkt das Soldatengesetz (§ 17), wonach ein Soldat verpflichtet ist, „alles in seinen Kräften Stehende zu tun, um seine Gesundheit zu er- halten oder wiederherzustellen“, sein Grundrecht auf körperliche Unver- sehrtheit explizit ein, sofern diese Maßnahmen „der Verhütung oder Bekämpfung übertragbarer Krank- heiten“ oder „der Feststellung seiner Dienst- oder Verwendungsfähigkeit“ dienen. Rechtliche Konsequenzen können erwachsen, wenn er „eine zumutbare ärztliche Maßnahme“ ab- lehnt und hierdurch seine Dienst- fähigkeit beeinträchtigt wird, wobei explizit eingeschränkt wird: „Nicht zumutbar ist eine ärztliche Maß- nahme, die mit einer erheblichen Gefahr für Leben oder Gesundheit verbunden ist.“ Argumente für eine Einschränkung der Patientenautonomie sind im Prinzip Gerechtigkeit begründet, das sich im Unterschied zu den anderen drei Prinzipien nicht auf die nicht impfwilligen Mitarbeiter bezieht, sondern in dessen Mittelpunkt die berechtigten Interessen aller anderen beteiligten Protagonisten und Grup- pen steht. So wäre eine Impfung und die damit hoffentlich verbundene Verminderung der Übertragungs- gefahr für alle Patienten, gerade aber für die Bewohner der Seniorenwohn- anlage beziehungsweise des Alten- und Pflegeheims von hohem, ja geradezu von vitalem Interesse. Dies umso mehr vor dem Hintergrund der hohen Inzidenz und der leidvollen Erfahrungen mit Corona-Ausbrüchen in entsprechenden Einrichtungen. Ferner sind die Interessen von B. berührt. Er beruft sich darauf, dass bei einer Infektion seiner Patienten durch Praxismitarbeiter auch er „da- für geradestehen müsse“, also die nicht impfwilligen Teammitglieder beim Beharren auf ihrem Standpunkt im Fall einer (dann wahrscheinliche- ren) Infektion die Konsequenzen nicht allein zu tragen hätten, son- dern ihn mit in die Verantwortung ziehen. Dies ist im Übrigen bereits bei einer (im Fall einer Impfung mög- licherweise vermeidbaren) Positiv- testung von Angehörigen des Praxis- teams problematisch, da hieraus die Quarantänisierung weiterer Mit- arbeiter und möglicherweise gar die zeitweise Schließung der Praxis resul- tieren könnten. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch der im Fallsetting formulierte Fragenkomplex beantworten. So ist die Frage sicherlich zu bejahen, ob an medizinisches Personal andere Maßstäbe als an Personen außerhalb der Gesundheitsberufe anzulegen sind. Dies ist zum einen darin begründet, dass hier ein höheres Maß an Fach- kompetenz und Einsicht vorausgesetzt werden kann. Zum anderen, um bei unserem Fall zu bleiben, hat nicht nur Zahnarzt B. Verantwortung für die Patienten, sondern die Garanten- stellung (das heißt die Verpflichtung, die Patienten vor Schaden zu schützen) ergibt sich zumindest aus ethischer Sicht auch für medizinisches Assis- tenzpersonal. Insofern stellt meines Erachtens in dieser speziellen Konstel- lation die körperliche Unversehrtheit keinen absoluten Wert dar, sondern es darf sehr wohl die Frage erlaubt sein, ob nicht vom medizinischen Personal dieser Praxis zur Abwen- dung von Schaden sowohl bei Patien- ten als auch beim Team die Einwilli- gung in „eine zumutbare ärztliche Maßnahme“ – und nur um diese geht es – erwartet werden kann. Aus ethischer Sicht problematisch ist hingegen das Vorgehen von B. Er wäre besser beraten, statt mit Restrik- tionen zu drohen den Wert der Imp- fungen, mögliche Impfreaktionen, Risiken und Nebenwirkungen, die Folgen sowohl für die Patienten als auch für die Praxis und die Mitarbei- ter sowie die ethischen Dimensionen mit dem Team zu besprechen und ge- gebenenfalls auch kontrovers zu dis- kutieren. Schwerwiegende Bedenken einzelner Teammitglieder gegen eine Impfung, etwa aufgrund bestehender Kontraindikationen oder manifester Ängste, sollten dabei nicht öffentlich, sondern im vertrauensvollen Einzel- gespräch erörtert werden. Eine Umset- zung auf eine Tätigkeit ohne näheren Patientenkontakt (die wohl nur in größeren Praxen oder MVZ mit einem entsprechend großen Personalpool realisierbar sein dürfte) sollte keines- falls als „Strafaktion“ angewandt wer- den, sondern kann gegebenenfalls sinnvoll sein, um einerseits das Team- mitglied aus der aktiven wie passiven Infektionsgefahr herauszunehmen und andererseits die notwendige Zeit einzuräumen, um die weitere Ent- wicklung abzuwarten und die Ent- scheidung zu überdenken. Damit bliebe auch das Recht auf späte Ein- sicht gewahrt und das Arbeitsklima würde nicht durch drohende Restrik- tionen belastet. \ 40 | TITEL

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