Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 4

zm 111, Nr. 4, 16.2.2021, (284) DER PATIENTENFALL Ein 52-jähriger Patient stellte sich mit einer fortgeschrittenen Parodontitis und einer schweren Gingivitis in der Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie der Universitätsmedizin Mainz vor. Die Überweisung durch den Hauszahnarzt war aufgrund einer sich in regio 38 befindlichen ulzerierten Raumforderung mit Verdacht auf das Vorliegen eines Plattenepithelkarzinoms erfolgt. In der klinischen Untersuchung zeigte sich eine starke generalisierte Parodontitis mit ubiquitär zweit- bis dritt- gradig gelockerten Zähnen. Der Patient litt weiterhin unter einer starken Gingivitis mit geröteter und geschwollener Schleimhaut. Er berichtete über zahlreiche Versuche der Parodontaltherapie, die jedoch lediglich zu Blutungen, Schmerzen und einem weiteren Rückgang der Schleimhaut geführt hätten. In regio 38 zeigte sich ein etwa 3 cm x 3 cm großer, ulzerierender Befund, der sich über den auf- steigenden Ast des Unterkiefers bis nach lingual erstreckte und zu Teilen den noch vorhandenen Zahn 37 umschloss (Abbildung 1). Der Patient gab in diesem Bereich starke Schmerzen an, die Mundöffnung war deutlich einge- schränkt. Auch zeigte sich ein Foetor ex ore. Neben der akuten klinischen Symptomatik berichtete der Patient über keine bekannten Vorerkrankungen außer einem Nikotin- abusus von 35 Packungsjahren. In Anbetracht der massiv parodontal geschädigten Zähne wurde eine Panoramaschichtaufnahme mit dem Ziel der Erstellung eines aktuellen Zahnstatus durchgeführt. In der radiologischen Aufnahme bestätigte sich der klinische Befund mit einem ubiquitär sichtbaren, starken horizontalen Knochenabbau und verbreiteten Parodontalspalten (Abbil- dung 2). Im Rahmen des präoperativen Stagings zeigte sich eine vorliegende HIV-Infektion, die dem Patienten noch nicht bekannt war. Bei Verdacht auf das Vorliegen eines Malignoms in regio 38 wurde eine Computertomografie des Kopf-Hals-Bereichs durchgeführt. Diese zeigte eine vorwiegend hypodense Gewebeinhomogenität, die von regio 38 nach cranial bis zu regio 28 auszulaufen schien. Eine eindeutig tumor- suspekte, Kontrastmittel aufnehmende Läsion konnte nicht dargestellt werden, jedoch stellten sich beidseits multiple vergrößerte Lymphknoten von bis zu 1,7 cm Durchmesser dar (Abbildung 3). Um histopathologisch ein Malignom auszuschließen, wurde unter Lokalanästhesie eine Probe aus der entsprechenden Region entnommen. Der Befund zeigte jedoch lediglich eine ulzerierende, florid-granulierende und abszendierende Entzündung ohne Anhalt für Malignität. Aufgrund der Inkonsistenz zwischen klinischem Befund und histologischem Bild wurde die Entscheidung zu einer Exzisionsbiopsie getroffen. In Anbetracht der Lokalisation des Befunds und der erhöhten Blutungsgefahr wurde der Eingriff in Intubationsnarkose durchgeführt. Die nun über sechs Wochen persistierende Raumforderung konnte komplikationslos exzidiert und die Wunde mittels hämostyptischer Maßnahmen therapiert werden, so dass der Patient noch am selben Tag in die ambulante Weiter- betreuung entlassen werden konnte. Der histopathologische Befundbericht zeigte Infiltrationen einer hochproliferativen Neoplasie, die aufgrund der vorliegenden HIV-Erkrankung, der Entnahmelokalisation und des Immunphänotyps (MUM1+, CD10+, CD79a+, Cyclin D1+) mit beinahe 100 Prozent Proliferationsaktivität als Plasmoblastisches Lymphom diagnostiziert wurde. In Anbetracht der Diagnose eines hochmalignen Lymphoms wurde die Überweisung des Patienten in die Hämatologie eingeleitet. Hier erfolgte die Ausweitung der bisherigen Diagnostik mittels Knochenmarkspunktion. In Zusammen- arbeit mit den Kollegen aus der konservierenden und der prothetischen Abteilung konnte ein interdisziplinäres Behandlungskonzept zur Therapie der stark gelockerten und nicht erhaltungswürdigen Zähne erstellt werden. Im Anschluss an die notwendige Zahnsanierung wurde zeitnah das hämato-onkologische Therapiekonzept der Kombination einer antiretroviralen Medikation mit Bictegravir, Emtricitabin, Tenofovir und einer Chemotherapie nach dem CHOP-Schema (Cyclophosphamid, Hydroxyd- aunomycin, Vincristin, Prednisolon) begonnen. Foto: MKG, Universitätsklinikum Mainz Abb. 2: Panoramaschichtaufnahme des Patienten: Zur Darstellung kommt ein konservierend und prothetisch versorgtes Gebiss. Auffällig ist der ubiquitäre, für das Alter des Patienten untypisch starke Knochen- abbau mit Furkationsbefall zahlreicher Zähne. 54 | ZAHNMEDIZIN

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