Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 5
zm 111, Nr. 5, 1.3.2021, (389) später erfolgenden zweiten Operati- on (zum Wechsel von den Distrakto- ren auf Osteosyntheseplatten) sollte zudem eine Unterkieferschwenkung zur finalen Einstellung der Okklusi- on erfolgen. In einer ersten virtuellen Planung er- folgte die Positionierung der beiden Kiefer in die Endposition. Aufgrund des errechneten Ausmaßes der not- wendigen Oberkieferverlagerung wurde geplant, die Oberkieferverlagerung in der ersten Operation zusammen mit der Knochenaugmentation als Kie- ferdistraktion (eine langsame Vorver- lagerung des Oberkiefers über zwei Wochen) durchzuführen. Für diesen Vorgang erfolgte die Bestimmung des Distraktionsvektors sowie die Positio- nierung der Distraktionsplatten. Der Datensatz des in seine Endposition distrahierten Oberkiefers wurde nun verwendet, um in einer zweiten vir- tuellen Planung die Knochenaugmen- tation zu planen. Dafür wurde ein altersentsprechender Normschädel der virtuellen Distraktionsplanung überlagert und die Knochenaugmen- tate wurden definiert (Abbildung 4b). Nach Freigabe der Gesamtplanung durch den Patienten erfolgte die Her- stellung der OP-Schablonen und der Knochenaufbauimplantate. Intraoperativ wurden der Oberkiefer in der Le-Fort-I-Ebene osteotomiert, die Distraktoren beidseits angebracht und dann die Knochenaufbau- implantate (ein Implantat im Stirn- bereich sowie jeweils zwei im media- len und im lateralen Orbitabereich) eingebracht. Nach Applikation der Distraktoren zeigte sich am Ende der Operation entsprechend der Planung noch ein Versatz zwischen den wei- ter vorstehenden caudalen Bereichen der infra-orbitalen Implantate und dem cranialen Oberkiefer (Abbildung 4c). Anschließend erfolgte die 14-tägige Distraktion des Oberkiefers in seine geplante vordere Endposition. Vier Wochen nach Stabilisierung des Regeneratgewebes erfolgte dann die Entfernung des Distraktors und die Verplattung des Oberkiefers so- wie die operative Schwenkung des Unterkiefers. Zu diesem Zeitpunkt zeigte sich dann eine genaue Passung zwischen cranialem Oberkiefer und den caudalen Anteilen der peri- orbitalen Knochenaugmentate (Ab- bildung 4c). Das postoperative Er- scheinungsbild und die postoperativ erreichte Okklusion sind deutlich harmonisiert und normalisiert (Ab- bildung 4d). Das Matching zeigte eine gute Übereinstimmung von vir- tueller Planung und chirurgischer Umsetzung (Abbildung 4e). AUSBLICK Eine besondere Limitation und gleich- zeitige Voraussetzung für diese Art der Chirurgie ist jedoch die Erfah- rung in der klassischen Dysgnathie- und Kraniofazialchirurgie. Während am Rechner grundsätzlich alle Bewegungen möglich sind, kann die intraoperative Umsetzung deutlich schwieriger sein. Dies betrifft unter anderem die chirurgischen Zugangs- wege und Osteotomien, die Bewe- gung von Knochen, insbesondere jedoch auch den chirurgischen Wundverschluss bei großen Aug- mentationen [Day et al., 2018]. Darüber hinaus steht die digitale Technik noch vor weiteren Heraus- forderungen: Derzeit können bei der 3-D-Gesichtsanalyse Knochen-, Weich- teil- und dentale Referenzpunkte – also rein statische Messungen – inte- griert werden. Das Verhalten der Weichgewebe unter Spannung lässt sich jedoch nur schwer vorhersagen. Finite Elemente-Berechnungen des Verhaltens der mitbewegten Weich- gewebe können schon heute genauere Aussagen treffen. Weitaus komplexer sieht es bei allen dynamischen As- pekten aus, beispielsweise der Simu- lation der Sichtbarkeit der Front- zähne und des Zahnfleisches beim entspannten Lächeln. Zudem ist, bezogen auf die dynamische Okklu- sion, die Integration des virtuellen Distraktors mit Inkorporation pa- tientenindividueller Daten (Kon- dylenabstand, dreidimensionale Kondylenbahnkonfiguration) ein nächstes Ziel. Es bleibt abzuwarten, was der digitale Fortschritt in den nächsten Jahren für die Zahn- medizin [Schlenz et al., 2019], die Dysgnathiechirurgie und die plas- tisch-rekonstruktive Gesichts- und Kraniofazialchirurgie bringt. \ FAZIT FÜR DIE PRAXIS \ Die Digitalisierung bietet nicht nur in der Zahnmedizin, sondern auch in der Chirurgie eine Vielzahl von Hilfsmitteln, die die Planung und Umsetzung von Eingriffen und auch die Kommunikation mit dem Patien- ten oder mit Kollegen vereinfachen. \ Für erfahrene Behandler erscheint eine digitale Planung gerade im Fall komplexer Behandlungskonzepte besonders relevant. Neben der Reduktion der OP-Zeit und der Verbesserung der Genauigkeit der OP-Ergebnisse können komplexe Behandlungsstrategien auch in einer Operation realisiert werden. \ Durch die neuen Visualisierungs- möglichkeiten wird die Kommuni- kation mit dem Patienten deutlich verbessert. Dies kann das Verständ- nis für die vorgeschlagene Behand- lung erhöhen und den Patienten aktiv in die Behandlungsplanung einbeziehen. \ Die interdisziplinäre Zusammenarbeit wird über die Nutzung digitaler Planungskonzepte vereinfacht. ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. PROF. DR. MED. UTA SCHICK Chefärztin Klinik für Neurochirurgie, Clemenshospital Münster Zertifiziertes Zentrum für Schädelbasis- chirugie der Gesellschaft für Schädelbasis- chirurgie (GSB-Chirurgie) Duesbergweg 124, 48153 Münster Foto: Clemenshospital Münster ZAHNMEDIZIN | 55
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