Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 6
zm 111, Nr. 6, 16.3.2021, (512) Initiativen auf nationaler Ebene. So veröffentlichte sie im Januar 1971 ein Thesenpapier mit dem Titel „Stich- worte zur künftigen Gestaltung von Prophylaxe und zahnärztlicher Ver- sorgung von Kindern“. Dort übte sie deutliche Kritik an der geringen Bereitschaft der Zahnärzteschaft zur Versorgung der Kinder, die als „unbe- quemste Patientengruppe [...] häufig ungern, zu spät oder gar nicht behan- delt“ würden. Sie betonte, dass nur 40 Prozent der bestehenden kariösen Läsionen versorgt würden und dass die verfügbaren Jugendzahnärzte und die in der Kinderbehandlung enga- gierten Universitätszahnkliniken über- lastet wären. Sie forderte die Etablie- rung von Kinderzahnkliniken, die mit Kassenverträgen und mit der Möglichkeit der Privatliquidation auszustatten seien. Diese Spezialklini- ken sollten die Prophylaxe verstärken und weitere Aufgaben übernehmen, namentlich die Versorgung von Kin- dern bis zum 14. Lebensjahr sowie behinderter Kinder, fällige Behand- lungen in Intubationsnarkose, die „Kinderprothetik“ und eine kiefer- orthopädische Basisberatung. 32 Gentz’ Initiative wurde zwar als „Brandrede“ wahrgenommen, hatte jedoch „keine unmittelbaren Aus- wirkungen“. 33 Immerhin griff Ulrich Rheinwald (1906–1993), 34 Präsident der Landeszahnärztekammer Baden- Württemberg (1972–1976), 1973 das von Gentz skizzierte Problem auf, brachte allerdings andere Lösungs- ansätze ins Gespräch: „Während Gentz situationsbedingt vor allem das Problem der mangelnden Be- handlungskapazität, aber auch schon eine Ausbildung zum Kinderzahnarzt im Auge hatte, ging es Kammer- präsident Rheinwald eher um eine Erweiterung der zahnärztlichen [...] Weiterbildung“, die im Unterschied zur Ausbildung in die Zuständigkeit der Kammern fiel. 35 Im Herbst 1973 wurde dann auf Initiative des DGZMK-Präsidenten Rudolf Naujoks (1919–2004) 36 eine „Arbeitsgruppe Kinderzahnheilkunde und präventive Zahnheilkunde“ ins Leben gerufen. Diese bestand aus einem fünf- köpfigen Führungsgremium, dem – als einzige Frau – auch Gentz angehörte. Besagte AG bildete in der Bundes- republik den Kristallisationskern der heutigen „Deutschen Gesellschaft für Kinderzahnheilkunde“ (DGKiZ). 37 „WARUM BEWIRBT SICH FRAU DR. GENTZ NICHT?“ Als in der Bundesrepublik in Gießen in den 1970er-Jahren die erste Profes- sur für Kinderzahnheilkunde ausge- schrieben wurde, fragten die Gut- achter in Bonn nach, „warum sich nicht Dr. Annelise Gentz beworben habe“. 38 Doch Gentz verfolgte andere Pläne. Wie Haun berichtet, war sie „müde geworden durch ihren [...] Einsatz für die behinderten Patien- ten“ 39 und zudem „enttäuscht durch die Widerstände gegen ihre berech- tigten Forderungen nach Aufwertung der Kinderzahnheilkunde“. 40 Obwohl sie in den Jahren an der Universität Bonn regelmäßig publizierte, hatte sie hier keine Habilitation verfolgt. Viel- mehr verließ sie 1977 – nach rund einem Jahrzehnt – die Universitäts- zahnklinik. Nach ihrem Ausscheiden übernahm Haun für einen Zeitraum von circa fünf Jahren in Bonn die Kinderzahn- heilkunde-Vorlesung und hielt die betreffenden Prüfungen ab. 41 In Gießen trat unterdessen Willi-Eckard Wetzel (*1943), seit Anfang der 1980er-Jahre erster bundesdeutscher Professor für Kinderzahnheilkunde, mit Verve für eine Aufwertung des Fachs ein. Es war offenkundig, dass das Fach in der Bundesrepublik in institutioneller Hinsicht nicht an den Entwicklungsstand in der DDR heranreichte. Dort war ebenfalls eine Frau zur Weg- bereiterin der „Kinderstomatologie“ geworden: Gisela Schützmannsky (1920–2013) 42 hatte sich 1957 bei Erwin Reichenbach (1897–1973) 43 habilitiert und wurde 1959 die „erste Dozentin für Kinderzahnheilkunde an einer deutschen Universität“ 44 . Schützmannsky fand bessere Rahmen- bedingungen vor als Gentz: Seit 1961 gab es in der DDR den Fachzahnarzt für Kinderstomatologie, und sie selbst wurde 1964 in Halle zur „Professorin mit Lehrauftrag“ ernannt. 1969 kon- stituierte sich dann die „Gesellschaft für Kinderstomatologie der DDR“, die unter der kundigen Leitung von Walter Künzel (*1928) rasch an Be- deutung gewann. Seit 1975 war die Kinderzahnheilkunde an allen Hoch- schulen der DDR ein „eigenständiges Lehrgebiet mit Abschlussprüfung“. 45 Gentz blieb nach ihrem Abschied von der Universität der zahnärztlichen Tätigkeit treu. Sie arbeitete nun in St. Augustin in der Praxis von Stephanie Lingener (1941–2008), 46 einer Kolle- gin aus früheren Klinik-Tagen. Hier widmeten sich beide unter anderem der Betreuung von vulnerablen Pa- tientengruppen, namentlich Kindern mit Handicap, aber auch Migranten und Asylsuchenden. 47 Zudem war Gentz weiterhin als Autorin und Fach- referentin aktiv. Ihre Publikationen behandelten nun zum Beispiel psy- chologische Fragen bei der Kinder- behandlung, 48 die Bedarfe kindlicher Patienten, 49 die zahnärztlichen Auf- gaben in der Betreuung behandlungs- unwilliger und behinderter Kinder, 50 aber auch den adäquaten Umgang mit den Eltern behinderter Kinder. 51 32 Römer (2004), 27; 33 Römer (2004), 27f.; 34 Landeszahnärztekammer (2005), 110; 35 Römer (2004), 29; 36 Klaiber (2004); 37 Römer (2004), 33f.; Groß/Schäfer (2009), 201; 38 Haun (2008b), 7; 39 Haun (2016a); 40 Haun (2008b), 7; 41 Haun (2016a); 42 Groß (2021c); 43 Groß (2020a); 44 Hübner/Müller (1990), 64, 83f.; 45 Römer (2004), 105f., 119; 46 Beckers-Lingener (2020); 47 Schiffner (2009); 48 Gentz (1977); 49 Gentz (1979); Gentz (1980); 50 Gentz (1981); Gentz (1983a); 51 Gentz (1985); Foto: mit freundlicher Genehmigung von Barbara Beckers-Lingener Gentz mit einem Patienten (ohne Jahresangabe) 66 | GESELLSCHAFT
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