Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 7
zm 111, Nr. 7, 1.4.2021, (588) mit speziellen Zusatzpolstern sogar für Kinder. 2. Rollstuhl-Kippvorrichtung: Motorische oder hydraulische Kippvorrichtungen gibt es von verschiedenen Herstellern und sie erleichtern die zahnärztliche Behandlung bei Rollstuhlfahrern. Übergewichtige Patienten nutzen aber Rollstühle, die größere Spur- weiten haben und entsprechend breitere Kippvorrichtungen benötigen. 3. Spezieller Transportstuhl: Transportstühle für Übergewich- tige erlauben Lageverstellungen, die in Grenzen auch zahn- medizinische Behandlungen ermöglichen. All diese Produkte werden nicht in größeren Serien hergestellt und ha- ben damit deutlich höhere Preise. Eine Praxis, die eine dieser Lösungen anbietet, wird jedoch die Mehrzahl stark übergewichtiger Patienten zahnärztlich versorgen können. Die Grenzen sind aber auch hier erreicht, wenn besonders übergewichtige Patienten mit speziellen Transport- vorrichtungen bewegt werden müs- sen. Dann hilft nur die mobile Zahn- medizin. Auch bei der Behandlung selbst gibt es einige Besonderheiten: \ Fettansammlungen in den oralen Weichgeweben erschweren grundsätzlich die zahnärztliche Behandlung. Dann lassen sich anatomische Bezugspunkte zum Beispiel für eine Leitungsanästhe- sie nicht immer sicher finden, ein Spiegel genügt oft nicht, um Weichgewebe ausreichend abzuhalten oder zu schützen, und Abformungen sind deutlich erschwert. \ Bei Übergewicht besteht ein intensiverer Präventionsbedarf, weil die häufigere Hyposalivation die Biofilmbildung in der Mund- höhle fördert. Zudem erhöht eine Dysfunktion des Immunsystems bei Übergewichtigen die Infekt- anfälligkeit zum Beispiel in Bezug auf eine Parodontitis. \ Bei der Patientenlagerung ist zu bedenken, dass in seltenen Fällen extreme Adipositas zu dem aus der Schwangerschaft bekannten Vena-cava-Kompressionssyndrom führen kann. NARKOSEN SIND BESONDERS SCHWIERIG \ Ein besonderes Problem stellen Narkosebehandlungen dar. Übergewichtige sind regelmäßig Hochrisikopatienten, die unter ver- schiedenen Begleiterkrankungen leiden: Diabetes, Bluthochdruck, Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Atemprobleme. Viele Aspekte erschweren überdies die anästhe- sistische Arbeit: Blutgefäße lassen sich schwer punktieren, Narkose- mittel sind heikel in der Dosie- rung, die Intubation ist schwierig, Atemwege können leicht verlegt werden, eine Umlagerung des Patienten gelingt kaum und post- operativ besteht oft eine erhöhte Embolie-Gefahr. In vielen Fällen sind Anästhesisten deshalb nur dann bereit, die besonderen Risi- ken einer Narkose bei adipösen Patienten einzugehen, wenn ernste zahnärztliche Indikationen vorliegen. \ Ein Zusammenhang zwischen Übergewicht und Parodontitis dürfte in beide Richtungen bestehen. Dass Übergewicht zu Parodontitis führt, ist wissenschaft- lich etabliert. Über die Dysfunktion des Immunsystems sind Patho- mechanismen bekannt, die einen kausalen Zusammenhang begrün- den, ebenso übt die ungesunde Lebensweise mit verminderter Vitaminaufnahme sekundäre Einflüsse aus. \ Andersherum führt Parodontitis zu erhöhten Serumspiegeln von pro- inflammatorischen Adipokinen, die wiederum negativen Einfluss auf den Glukose- und Fettstoff- wechsel nehmen. Auch hier wäre ein sekundärer Einfluss über Zahn- verlust oder schlechtsitzenden Zahnersatz vorstellbar, der eine ausgewogene Ernährung behindert. Die fünfte Phase der Deutschen Mund- gesundheitsstudie sieht den hohen BMI sowohl bei jüngeren Erwachse- nen als auch bei jüngeren Senioren unter den Top 3 der Risikofaktoren für eine schwere Parodontitis – jeweils vor dem Rauchen. Nachdem Kolle- ginnen und Kollegen schon sehr erfolgreich bei der Raucherentwöh- nung mitgewirkt haben, wäre ein entsprechendes Engagement bei der Bekämpfung von Übergewicht eben- so folgerichtig wie wünschenswert. AUSBLICK Die Zahnmedizin hat sich bislang all den zahnmedizinischen Herausforde- rungen erfolgreich gestellt, die in unserer Gesellschaft bestehen oder gewachsen sind. Aktuelle Beispiele sind die Präventionskonzepte bei kleinen Kindern, bei Menschen mit Behinderungen und bei Pflegebedürf- tigen. Starkes Übergewicht ist für viele noch Neuland – ein Neuland aber, das wir allein schon zahlen- mäßig nicht mehr ignorieren kön- nen. Der Begriff „bariatrische Zahn- medizin“ hilft, die Kommunikation über unser Behandlungsangebot in einem tabubelasteten Bereich zu er- leichtern und Stigmatisierung zu ver- meiden. Der besondere Aufwand an Geräten, Zeit und Organisation geht jedoch eindeutig über das hinaus, was im GKV-System abgebildet ist. \ ERFAHRUNGEN MIT XXL-PATIENTEN Wie sind Ihre Erfahrungen mit stark übergewichtigen Patientinnen und Patienten? Berichten Sie uns, wie Sie mit diesen Patienten umgehen, welche Heraus- forderungen es bei der Behandlung gibt und wie Sie diesen begegnen. Schreiben Sie der Redaktion unter: zm@zm-online.de PROF. DR. CHRISTOPH BENZ Vizepräsident der Bundeszahnärztekammer Foto: axentis.de 34 | POLITIK
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