Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8

zm 111, Nr. 8, 16.4.2021, (676) INTERVIEW MIT DEM GESUNDHEITSWISSENSCHAFTLER PROF. DR. WOLFGANG SCHLICHT „Zoonosen brechen nicht schicksalhaft über uns herein!“ Sollten wir unsere Lebensgewohnheiten nicht ernsthaft ändern, sind wir von der nächsten Pandemie nicht weit entfernt, mahnt der Stuttgarter Gesundheitswissenschaftler Prof. Dr. Wolfgang Schlicht. Sein Plädoyer: Die Umkehr unserer Lebensweise hin zu mehr Klima- und Umweltschutz. Die Politik sieht er dabei in der Verantwortung, Ärzte und Zahnärzte als Fürsprecher ihrer Patienten. Lockdown, Kontaktbeschränkungen und massive Einschränkungen im sozialen und wirtschaftlichen Leben einerseits, Impfungen, Testungen und partielle Lockerungen andererseits – sind das aus Ihrer Sicht die richtigen Strategien, um die Pandemie wirksam zu bekämpfen? Prof. Dr. Wolfgang Schlicht: In der derzeitigen Lage, mit Virus- mutanten, die gegenüber dem Wildtyp deutlich ansteckender – einige Studien sagen bis zu 60 Prozent – und auch tödlicher sind, gibt es keinen anderen Weg, um die Pandemie zu be- herrschen. Allerdings müssten die politisch Verantwortlichen, statt halbherzige, endlich konsistente und konsequente Maß- nahmen verordnen. Noch immer fehlt es beispielsweise an einem regelmäßigen Testen in Schulen und in Betrieben, in denen kein Homeoffice möglich ist, noch immer sind Schul- busse zum Bersten überfüllt und noch immer haben wir keine App, die zur Kontaktnachverfolgung taugt. Impfen sollten auch schnellstens die Hausarztpraxen. Welche pandemischen Konzepte sind denn sinnvoll, um Deutschland aus der Corona-Krise zu führen? Klassische Konzepte und Maßnahmen wie soziale Distanzierung, Mobilitätseinschränkungen und Testen sind in der aktuellen Krise uneingeschränkt sinnvoll. Dazu kommt die Immunisie- rung mit den vorhandenen Vakzinen und demnächst hoffent- lich weiteren Impfstoffen. Was fehlt, ist eine finanzielle An- strengung zur Medikamentenentwicklung. Das Virus bleibt, Menschen werden sich anstecken und erkranken, manche da- von schwer. Da wäre es hilfreich und beruhigend, die Medizin hätte eine wirkungsvolle medikamentöse, anti-virale Therapie zur Hand. Was mir außerdem Sorgen bereitet, ist das Fehlen von Impfstoffen für Kinder. Die Krux ist doch die, dass wir – sollte die Corona-Krise einmal ausgestanden sein – nicht sicher sein können, dass nicht bald wieder neue Pandemien ausbrechen. Wie kann man eine Gesellschaft für solche künftigen Krisen wappnen? Es stimmt, wir sind von der nächsten Pandemie nicht weit weg. Von den geschätzten 1,7 Millionen Viren, die in Säuge- tieren und Vögeln auf ihre Entdeckung warten, sind vermut- lich 540.000 bis 850.000 in der Lage, Menschen zu infizieren, schreibt etwa die „Intergovernmental Platform on Biodiversity and Ecosystem Services“. [Anm. d. Red.: Das ist eine in Bonn ansässige UN-Organisation mit 136 Mitgliedstaaten zur wissen- schaftlichen Politikberatung. Ziel ist die nachhaltige Erhaltung und Nutzung der biologischen Vielfalt und der Ökosysteme.] In jedem Jahr treten etwa fünf neue Erkrankungen auf, die das Zeug zur Pandemie haben. Man sollte sich vor Augen halten, dass Zoonosen keine reinen, über die Gesellschaft schicksalhaft hereinbrechenden Naturgewalten sind, sondern durch natur- zerstörende Lebensweisen mitbedingt werden. Sie werden sich – gibt es keine Umkehr in den Lebensweisen – zukünftig wahr- scheinlich wiederholen. Wir müssen uns also mit einer Umkehr in den Lebensweisen wappnen. Weit vorne stehen der Klimaschutz, der Stopp der Zersiedelung der Landschaft, der Umbau der industriellen Landwirtschaft, vor allem auch der Massentierhaltung, in eine ökologische Bewirtschaftung und eine Wirtschaftsweise, die die Natur erhält, statt sie zu zerstören. Wie hängt das mit der Allgemeingesundheit der Bevölkerung zusammen? Der Klimawandel ist bereits heute ein spürbares Beispiel, was daraus für die Bevölkerungsgesundheit erwächst. In den ver- gangenen zehn Jahren wurde ein Hitzesommer durch den nächsten abgelöst. Die Hitzewelle 2003 gilt als größte Natur- PROF. DR. WOLFGANG SCHLICHT war langjähriger Lehrstuhlinhaber für Sport- und Gesundheits- wissenschaften an der Universität Stuttgart und ist Experte für Fragen der Prävention und Gesundheitsförderung. Seit seiner Emeritierung leitet er das Beratungsunternehmen „Evident- Research“. Foto: privat 18 | GESELLSCHAFT

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