Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8
zm 111, Nr. 8, 16.4.2021, (678) katastrophe seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Sie kostete mehr als 50.000 Menschen in Europa das Leben. Seitdem verzeich- nen wir von Sommer zu Sommer neue Hitzerekorde und eine deutliche Übersterblichkeit vor allem der älteren Bevölkerung. Ein anderes Beispiel sind Feinstäube, die vor allem Menschen in Städten bedrohen. Aktuelle Zahlen in der renommierten Zeitschrift Science Advances belegen, dass etwa in den USA jährlich 140.000 Menschen vorzeitig versterben, weil es nicht gelingt, die Feinstaubwerte auf die Höhe der WHO-Vorgaben zu begrenzen. Und das ist nur die „Spitze des Eisbergs“. Noch ein Beispiel aus Deutschland: Im Deutschen Ärzteblatt fassten 2019 Beate Ritz und Kolleginnen zusammen, dass Feinstaub mit einer Partikelgröße von > 10 µg bereits unterhalb des Grenzwerts von < 2,5 µg/m 3 das relative Risiko von Blut- hochdruck, Diabetes Typ 2, Demenz und Apoplex statistisch bedeutsam erhöht. Welche Möglichkeiten gibt es, die Verbreitung von Viren auszubremsen? Die Antwort liegt nahe: Wir brauchen Konzepte, die unsere Lebens- und Wirtschaftsweise zur Nachhaltigkeit transformieren. Zwischen Umwelt und Wirtschaft gibt es keinen unausweich- lichen Konflikt. Die derzeitige Art zu wirtschaften, zum Bei- spiel in der agrar-subventionierten industriellen Landwirt- schaft, zerstört unsere natürlichen Lebensgrundlagen. Sie ge- fährdet massiv den Wohlstand der kommenden Generationen und wirkt bereits jetzt schädlich auf die Bevölkerungsgesund- heit. Wälder werden gerodet, Meere überfischt und mit Un- mengen von Plastik verschmutzt, Ackerböden gehen verloren und die Biodiversität geht zurück. Die Folgekosten für das Jahr 2050 beziffern seriöse Institute auf rund ein Viertel des weltweiten Bruttosozialprodukts. Wir gewinnen alle, wenn uns – jenseits von parteipolitischem Ge- zänk – die Transformation zu einer „Green Economy“ gelingt, in der ökologisch gedacht und gearbeitet wird, und in der die natürlichen Lebensgrundlagen erhalten werden. Welche Rolle spielen dabei die politische Verantwortung und die Verantwortung der Daseinsvorsorge? Die Daseinsvorsorge ist unter anderem im Artikel 20 Grund- gesetz („Sozialstaatspostulat“) als Aufgabe der Kommunen ge- regelt. Das Bundesverfassungsgericht hat in den 1980er-Jahren dazu ausgeführt, dass Daseinsvorsorge Leistungen bedeutet, „derer der Bürger zur Sicherung einer menschenwürdigen Exis- tenz unumgänglich bedarf“. Das ist das Mindeste. Durch die Unmittelbarkeit, mit der kommunal-politische und administrative Entscheidungen die Bürgerinnen und Bürger treffen, haben Kommunen eine herausgehobene Verantwor- tung für die Gesundheitsförderung, nicht nur für die Sicher- stellung der Versorgung (im Verbund mit Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Vereinigungen) und der Pflege. Kom- munale Gesundheitsförderung vor dem Hintergrund dieser großen gesellschaftlichen Herausforderungen – den Klima- wandel habe ich schon genannt – sollte sich an den UN-Nach- haltigkeitszielen, vor allem an den Zielen Nr. 3 „Gesundheit und Wohlbefinden“ und Nr. 11 „Nachhaltige Städte und Ge- meinden“ ausrichten. Da ist in Deutschland deutlich Luft nach oben. Was bedeutet das für die gesundheitliche Lebensqualität – auch im Hinblick auf die Pandemie? Wenn wir nur einmal die OECD-Daten zur „ferneren Lebens- erwartung“ und die „Anzahl der in Gesundheit verbrachten Lebensjahre“ in unserem Land betrachten, sehen wir, dass 65-Jährige die Chance auf etwa 19 weitere Lebensjahre haben. Aber, nur knapp die Hälfte davon verbringen die älteren Men- schen „in Gesundheit“. Bereits mehr als 40 Prozent der Erwachsenen im mittleren Lebensalter leiden in Deutschland an mehr als einer Erkrankung – allen vorweg Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Diabetes, Adipositas – und auch zunehmend an psychischen Störungen. Mehr Umwelt- und Individual-Resilienz macht uns im Übrigen auch weniger anfällig für virale Erkrankungen wie COVID-19. Die Gesundheitswissenschaften verwenden hier den Begriff der Syndemie, wenn Erkrankungen mit sozialen und Umwelt- variablen korreliert sind. Resilienz muss man schaffen, die kommt nicht von selbst und ist auch nicht einseitig eine selbstverantwortete Aufgabe von Personen. Welche Rolle spielen dabei Ärzte und Zahnärzte? Ärzte und Zahnärzte sind einflussreiche Vertrauenspersonen, die – so nennt man das in der Politikwissenschaft – als „Advocacy- Agenten“, als Fürsprecher ihrer Patienten und Patientinnen, agieren könnten. In den Kommunen steht die Gesundheitsför- derung, wie ich sie eben mit Bezug zu den Nachhaltigkeitszie- len angedeutet habe, nicht als Politikfeld ganz oben auf der Agenda, mit der sich die Gremien und die Verwaltung befas- sen. Ärzte und Zahnärzte könnten mit ihrem Einfluss auf die Bevölkerung und auf die politisch verantwortlichen Akteurin- nen und Akteure dafür sorgen, dass die Gesundheitsförderung ein zentraler Baustein der kommunalen Daseinsvorsorge wird. Welche Verantwortung hat der Einzelne, was kann er tun? Man kann es sich leicht machen und vortragen, dass es in der Verantwortung des Einzelnen steht, sich um die eigene Gesundheit zu kümmern: sich ausgewogen ernähren, den Fleischkonsum reduzieren, nicht rauchen, Alkohol nur in Maßen trinken und sich mehr bewegen. Nur, gesundes Verhalten ist nicht allein Sache des Einzelnen. Gesellschaft und Umwelt regulieren das Verhalten in ganz ent- scheidendem Maß. Das kann man am Beispiel älterer Menschen sehen, für die Alltagsbewegung sehr entscheidend ist, um ge- sund zu bleiben. Sind Alltagsziele (Geschäfte, Arzt- und Zahn- arztpraxen, Apotheken) weit von der eigenen Wohnung ent- fernt? Sind Straßen, Plätze und Gehsteige schlecht beleuchtet und im Sommer nicht beschattet? Erwecken die Straßen und Plätze den Eindruck, sich dort nicht sicher bewegen zu kön- nen? Führen Wege an verwahrlosten, vermüllten Flächen und Gebäuden vorbei und münden in Sackgassen? Dann werden sie von älteren Menschen gemieden. Statt zu Fuß oder mit dem Rad suchen sie Ziele mit dem Auto, mit dem Taxi oder dem Bus auf, oder sie bleiben – vor allem Hochbetagte – in ihren vier Wänden. Sie ziehen sich aus dem öffentlichen Leben zurück. Dann drohen soziale Isolation und Gebrechlichkeit– mit gravierenden Folgen für die Gesundheit. Das ist in vielen Studien untersucht und evident. Das Gespräch führte Gabriele Prchala. 20 | GESELLSCHAFT
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