Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8

zm 111, Nr. 8, 16.4.2021, (716) digung des Fachs Kieferorthopädie neu etabliert worden; es diente in der Folge anderen Medizinischen Fakul- täten als Vorbild für die Errichtung kieferorthopädischer Lehrstühle. Bis heute hält sich das Diktum, dass Korkhaus der erste bundesdeutsche Ordinarius für Kieferorthopädie ge- wesen sei. Das trifft jedoch nicht zu: Korkhaus war zwar 1948 der erste spezialisierte Kieferorthopäde, der einen Lehrstuhl erlangte, hatte aber damals ein Ordinariat für Zahn- heilkunde übernommen, während Dausch-Neumann in der Bundes- republik den ersten Lehrstuhl für Kieferorthopädie besetzen konnte. In der gesamtdeutschen Perspektive stellte sich die Sachlage allerdings noch diffiziler dar: In der ehemaligen DDR wurde der erste Lehrstuhl für Kieferorthopädie bereits 1960 an den 1957 habilitierten Hallenser Walter Rudolph (*1925) vergeben: Er wurde an die Ostberliner Humboldt-Univer- sität berufen, floh allerdings bereits im Folgejahr in die Bundesrepublik und ließ sich in Siegen nieder. 19 Fünf Jahre später gelangte dann Hans Brückl (1912-1966) 20 an der Universi- tät Halle als zweiter Deutscher auf ei- nen Lehrstuhl für Kieferorthopädie. Es fällt auf, dass die Karriere von Dausch-Neumann deutlich reibungs- ärmer und zudem erfolgreicher ver- lief als die ihrer älteren (in dieser Reihe vorgestellten) Kolleginnen Maria Schug-Kösters 21 und Elsbeth von Schnizer. 22 Doch es wäre zu kurz gegriffen, den größeren Erfolg Dausch-Neumanns mit fachlicher Überlegenheit, einem größeren Durchsetzungsvermögen oder einem für weibliche Karrieren günstigeren Zeitgeist zu erklären. Alle drei Zahn- ärztinnen brachten die erforderliche Qualifikation für eine Hochschul- laufbahn mit und in den 1950er- und 60er-Jahren waren wissenschaftliche Karrieren für Frauen nicht wesentlich leichter oder häufiger als in den 1930er- und 40er-Jahren. 23 ES ZÄHLTE DAS GÜNSTIGE AKADEMISCHE UMFELD Entscheidender dürfte ein anderer Faktor gewesen sein: Dausch-Neu- mann verfügte über ein günstigeres akademisches Umfeld als die beiden Kolleginnen: Mit Reichenbach und Korkhaus hatte sie akademische Mentoren, die in ihrem Fachgebiet jeweils führend in beiden deutschen Staaten waren: Reichenbach war zum Zeitpunkt der Habilitation von Dausch-Neumann der wohl promi- nenteste und einflussreichste ost- deutsche Professor für Zahnheilkunde und zudem die beherrschende Figur auf dem Gebiet der Kieferorthopädie. Gleiches galt für Korkhaus und die Kieferorthopädie in Westdeutsch- land. Beide waren zudem exzellent vernetzt und dementsprechend in der Lage, ihren akademischen Nach- wuchs in aussichtsreiche Positionen zu bringen. Doch auch mit ihrer Berufung nach Tübingen (1961) hatte Dausch-Neu- mann Glück: In Tübingen traf sie auf den Klinikdirektor Eugen Fröhlich 24 (1910–1971), der in dieser Zeit zu den prägendsten zahnärztlichen Hoch- schullehrern des deutschsprachigen Raums zählte. Fröhlich hatte nach mehreren abgelehnten Rufen an andere Universitäten (unter anderem Würzburg, Münster und Bonn) in Tü- bingen ein hohes Standing. Er konnte deshalb weitreichenden Einfluss auf den Bau einer neuen Zahnklinik nehmen, mit der „er sich schon zu Lebzeiten ein Denkmal“ setzte. 25 Dausch-Neumann profitierte mit ihrer kieferorthopädischen Abteilung massiv von den baulichen Maßnah- men – und mehr noch von der Tat- sache, dass Fröhlich in Tübingen die Einrichtung eines selbstständigen Ordinariats für Kieferorthopädie vorantrieb, das mit seiner Unterstüt- zung 1968 Dausch-Neumann über- tragen wurde. Auch im nationalen Maßstab war Fröhlich eine bedeutende Gestalt: 1969 wurde er zum Präsiden- ten der DGZMK gewählt. 26 Dausch- Neumann verfügte somit in jeder Pha- se ihrer Karriere über wohlmeinende und einflussreiche Mentoren. Letzteres war bei von Schnizer erkennbar anders: Sie hatte sich bei Georg Blessing 27 (1882–1941) ha- bilitiert, der 1934 aufgrund seiner jüdischen Herkunft zwangsemeritiert wurde. Sie fürchtete fortan als Bles- 19 Kürschner (1961), Bd. 2, 1705; Dt. Zahnärztl. Adreßbuch (1962), 758; 20 Horch (1969); 21 Groß (2021a); 22 Groß (2021b); 23 Groß (1998); Groß (2009); Groß/Schäfer (2011); 24 Veigel (1971), 1003f.; Riethe (1972), 2–5; 25 Veigel (1971), 1003; 26 Riethe (1972), 3 DIE NEUE ZM-REIHE „PIONIERINNEN DER ZAHNMEDIZIN“ Dorothea Dausch-Neumann (zm 8/2021) Foto: Deutscher Zahn- ärzte-Kalender 16 (1957), 120 Gisela Schützmannsky (zm 7/2021, S. 56–59) Foto: Deutscher Zahnärzte-Kalender 39 (1980), 65 Anna-Luise Gentz (zm 6/2021, S. 64–67) Foto: Deutscher Zahnärzte-Kalender 39 (1980), 65 Herta Byloff-Clar (zm 5/2021, S. 40–43) Foto: Byloff (2020) Elsbeth von Schnizer (zm 4/2021, S. 46–49) Foto: BArch, NS 44/121, Bl. 69 Maria Schug-Kösters (zm 3/2021, S. 44–48) Foto: Deutscher Zahnärzte-Kalender 13 (1954), 70 58 | GESELLSCHAFT

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=