Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8
zm 111, Nr. 8, 16.4.2021, (741) und der Zahnärzteschaft betriebenen Liquidierung von Ambulatorien, Zahnkliniken 7 , den Institutionen der Kinder- und Jugendzahnheilkunde mit ihren Auswirkungen bis in die heutige Zeit. Die Folgen der sozialdarwinistischen Berufseinstellung der Zahnärzteschaft und deren Einfluss auf die gesund- heits- und sozialpolitische Versor- gungsrealität in der BRD bedürfen der wissenschaftlichen Analyse. Es fehlen auf die Zeit nach 1945 bezogene Er- gebnisse über das Schicksal der Re- migranten, die kritische Analyse des Einflusses ehemaliger NS-Funktions- träger auf die Marginalisierung des ÖGD hinsichtlich der Jahrzehnte an- haltenden desaströsen Zustände in der Kinder- und Jugendzahnpflege und auf die Auswirkungen der Monopoli- sierung des renditeorientierten Ver- sorgungssystems in Westdeutschland. Die führende Rolle des bis 1987 noch mit einem ehemaligen NSDAP-Mit- glied besetzten Vorstands des Freien Verbandes Deutscher Zahnärzte (FVDZ) hinsichtlich der langjährigen inhaltlichen/personellen Dominanz der Selbstverwaltungsorgane der westdeutschen Zahnärzteschaft und der Kontinuität ihrer noch immer ak- tuellen Versuche einer Zerschlagung der Grundlagen der GKV blieb ausge- spart. Für die Mitglieder des FVDZ bedeutete allein die Existenz des Krankenscheins die Verwirklichung des Sozialismus. Ohne die seit Anfang des 20. Jahrhunderts bekannte Akku- mulation von Risikofaktoren bei der Entstehung von Karies und Parodon- topathien zu berücksichtigen, propa- gierten sie die Selbstverschuldungs- legende und beschimpften die sich ihnen anvertrauenden Patienten und Patientinnen sozialdarwinistisch tra- diert als „Oralsäue“. Die These des BZÄK-Präsidenten Dr. Peter Engel, dass die frühen Beiträge zur Aufarbeitung der zahnärztlichen Rolle im Nationalsozialismus von Au- toren außerhalb des fachhistorischen Wissenschaftsbetriebs von einer Gruppe niedergelassener Zahnärztin- nen und Zahnärzte ohne Außenwir- kung verfasst und publiziert wurden, ist unzutreffend. Diese Deutung do- kumentiert die Persistenz eingeübter Abwehrstrategien. Es ist der Versuch, die Fülle und die Präsenz des im Zeit- raum von 1980 bis 2000 erarbeiteten wissenschaftlichen Materials zu exter- nalisieren, um die damalige Untätig- keit der Zahnärzteschaft in einem günstigeren Licht erscheinen zu las- sen. Mit sehr wenigen Ausnahmen, zu denen ein Teil der Arbeiten des Autors dieses Beitrags zählt, handelte es sich um Publikationen mit aus Dis- sertationen destillierten Forschungs- ergebnissen ost- und westdeutscher Universitäten. DIE LEGENDE VON DER FRÜHEN AUFARBEITUNG Zutreffend ist, dass sich eine Gruppe idealistisch eingestellter, niedergelas- sener Zahnärztinnen und Zahnärzte in der VDZM zusammengeschlossen hatte und die Publikation dieser Ar- beiten in der Vereinszeitschrift „der artikulator“, teilweise im Rahmen von Sonderheften (1983, 2002), durch ihre Mitgliedsbeiträge ermög- lichte. Von 1978 bis 2002 ging diese Zeitschrift komplett allen medizin- historischen Instituten, Bibliotheken, Universitätszahnkliniken und den In- stitutionen der Selbstverwaltung kos- tenfrei zu. Zutreffend ist auch, dass die Publikationen dieser Autorinnen und Autoren „nicht in breit rezipier- ten zahnärztlichen Standesorganen erschienen“. Die Begründung dafür ist profan: Unter anderem die zm übten eine berufsinterne Zensur mit der Begrün- dung aus, man dürfe die Kollegen- schaft durch Informationen dieser Art „nicht spalten“. Während die zm vorgaben, einen Beitrag über den Zahnarzt von Anne Frank wegen etwaiger ideologischer „Spaltung der Kolleginnen und Kollegen“ nicht zu publizieren, mag man nicht zu Ende denken, aus welchen Gründen zum Beispiel die Biografie der NS-Stütze und Reichdozentenführers, Teilneh- mers des Novemberputsches von 1923 und Blutordensträgers Karl Pieper mit dem Hinweis auf äußerst fragwürdige Nachkriegsverdienste publiziert wurde. Die hier zur Diskussion stehende Thematik war in der Öffentlichkeit präsent. Der Kongress „Zahnmedizin und Faschismus“ der VDZM in Han- nover fand 1982 unter Teilnahme bekannter Wissenschaftler statt. Es gab öffentliche Vorträge an den Uni- versitäten Marburg (1984, 1990), der Universität Regensburg (1998) und öffentliche Ringvorlesungen an der Technischen Universität Dresden (1993, 1999, 2003) zu diesem Thema. Im Rahmen der seit 25 Jahren regel- mäßig von der TU Dresden durchge- führten öffentlichen Veranstaltungs- reihe „Medizin und Judentum“ wur- den zahlreiche Vorträge über die jüdischen Protagonisten der sozialen Zahnheilkunde gehalten und an- schließend publiziert 8 . Die skandalösen Diskurse über die Verleihungen des Otto-Loos-Preises (Reichsdozentenführer) der Landes- zahnärztekammer Hessen wurden in „Der Hessische Zahnarzt“ öffentlich und intern mit teilweise heute noch Standespolitik praktizierenden Zahn- ärzten ausgetragen. Ein ehemaliger geschäftsführender Direktor der Frankfurter Universitätszahnklinik und gleichzeitig unbelehrbarer Apologet des Reichsdozentenführers Otto Loos drohte 1988 den demokratischen Aufklärern als „treuloser Minderheits- gruppierung von ideologischen Dia- lektikern“ in tradierter Diktion mit DR. MED. DENT. WOLFGANG KIRCHHOFF Verfasser zahlreicher wissenschaftlicher und medizin-historischer Veröffentlichungen zur NS-Vergangenheit der Zahnärzteschaft Foto: privat 7 Kirchhoff W. Schwarze Löcher in der zahnmedizinischen Geschichte? In: zm 106. Nr. 11 A, 1.6.2016, (1222); 8 Vergl. u.a. Kirchhoff W. Ärzte und Juden- tum im Spiegel der Geschichte. https://www.zm-online.de/archiv/2010/04/gesellschaft/aerzte-und-judentum-im-spiegel-der-geschichte/ ; zuletzt aufgerufen am 18.02.2021; 9 Vergl. ausf. Kirchhoff W. Faschismusrezeption der deutschen Zahnärzteschaft – die Wahrheit verjährt nicht. In: Kirchhoff W / Heidel CP. „…total fertig mit dem Nationalsozialismus“? Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus. Frankfurt 2016. S.325–426; GESELLSCHAFT | 83
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