Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 8
zm 111, Nr. 8, 16.4.2021, (742) den „Selbstreinigungskräften“(!) der Zahnärzteschaft 9 . Diese und andere Ausschnitte aus der Nachkriegszeit umfassend und kritisch-historisch aufzuarbeiten, wäre genuiner Be- standteil der „Bringschuld“ gewesen. DIE WISSENSCHAFT HAT TOTAL VERSAGT Unstrittig ist das totale Versagen der zahnmedizinischen Wissenschaft von 1933 bis 1945. Für die Zeit nach 1945 markierte Prof. Dr. Frankenberger deren fortgesetztes Versagen mit den Eigenschaften des politisch angepass- ten Verhaltens, des Ausblendens und dauerhaften Wegschauens. Das betraf die meisten Medizinhistorischen In- stitute und Universitätszahnkliniken Westdeutschlands – das betraf etwa ab Mitte der 1980er-Jahre nicht mehr die Institute in Berlin-Ost, Dresden oder Leipzig. In Westdeutschland wurde nicht nur ausgeblendet und weggeschaut, es wurden mithilfe von inhaltlich revisionistischen Disserta- tionen Hochschullehrer rehabilitiert. Im Kontrast dazu wurden einige medizin-historisch relevante Disserta- tionsthemen zur Verfügung gestellt, deren Zielsetzung einer seriösen wissenschaftlichen Bearbeitung galt. Dazu zählten für den Zeitraum vom Ende der 1980er-Jahre bis etwa zur Jahrtausendwende die Dissertationen von Dr. Norbert Guggenbichler (Frankfurt 1988) und Dr. Gisela Kleine (Dresden 1989) als Gesamt- übersichten, von Dres. Kerstin Pfeifer & Rüdiger Pfeifer (Dresden 1988) über die Geschichte der sozialen Zahnheil- kunde, von Dr. Wilhelm Schulz die Durchführung der zahnmedizinischen Versorgung durch die Waffen-SS in den Konzentrationslagern (Bonn 1989), von Dr. Thomas Nickol die Biografie über Carl Röse (Leipzig 1991) und andere Beiträge, von Dr. Ulrich- Wilhelm Depmer über Flucht und Exil (Kiel 1993), von Dr. Michael Köhn über Berufsverbote, Emigration und Verfolgung der Berliner Zahnärzte (Berlin 1994), Dr. Andreas Moerner über die Dentistenfrage (Leipzig 1996), Dr. Kai Peter Müller über die Schulzahnpflege bis 1945 (Göttingen 1997) und Dr. Bettina Wündrich über die „neue deutsche ZHK“ (Heidelberg 2000). Hinzu kam eine größere Anzahl von Dissertationen über die Schicksale von Zahnärzten und Zahnärztinnen jüdischer Abstam- mung aus verschiedenen Regionen Deutschlands, deren Daten von der VDZM gesammelt, erweitert und ab 2002 als „Opferliste“ ins Netz gestellt wurden. WICHTIG: EIN BEKENNTNIS ZUR MITVERANTWORTUNG Prof. Dr. Frankenberger kam auf der Pressekonferenz zu dem realistischen Schluss, dass hinsichtlich der Auf- arbeitung grundlegende Erkenntnisse gewonnen wurden, doch viele Fragen offen sind. Zu hoffen ist daher, dass auf dem Weg zu weiteren Forschungs- ergebnissen beim nächsten Deutschen Zahnärztetag ein der Nürnberger Er- klärung des 115. Ärztetages vom Mai 2012 analoges Bekenntnis über die wesentliche Mitverantwortung der Zahnärzteschaft an den Unrechtstaten der NS-Medizin abgelegt wird. \ ZAHNMEDIZIN UND ZAHNÄRZTE IM NATIONALSOZIALISMUS Die Forschung geht weiter Dominik Groß G erne nehme ich zu den An- merkungen von Dr. Wolfgang Kirchhoff Stellung, zumal es mir Gelegenheit gibt, seine Pionier- rolle bei der Aufarbeitung der NS-Ver- gangenheit des Zahnärztestandes zu bekräftigen. Ich habe dies bereits mehrfach öffentlich betont – in Vor- trägen und Aufsätzen, aber auch zum Beispiel in der FAZ (2.12.2019, S. 7) –, möchte es aber an dieser Stelle gerne wiederholen: Dr. Kirchhoff hat mit seinen verdienstvollen Untersuchun- gen in den 1980er-Jahren nicht nur die ersten Marksteine gesetzt, sondern hatte hierbei noch weitaus höhere Hürden zu überwinden als wir in der jüngsten Vergangenheit. Damit meine ich nicht nur die von ihm angedeuteten Widerstände innerhalb der Zahnärzteschaft, sondern auch die mangelnde Bereitschaft großer Teile der damaligen Gesellschaft, sich mit dieser Thematik auseinanderzu- setzen. Man denke nur an die aus heutiger Sicht verstörenden Diskus- sionen im „Deutschen Ärzteblatt“ Ende der 1980er-Jahre. Herausstellen möchte ich zudem, dass Dr. Kirchhoff und seine damaligen Mitstreiter, darunter auch Dr. Norbert Guggenbichler, im Unterschied zu uns nicht auf die Ressourcen und wis- senschaftlichen Netzwerke eines me- dizinhistorischen Lehrstuhls zurück- greifen konnten, sondern mit be- grenzten eigenen Mitteln wirksam werden mussten. Dass wir nun 40 Jahre später in der Aufarbeitung ein gutes Stück weitergekommen sind, ist auch seiner fortgesetzten Kritik zuzu- schreiben: Er war über lange Zeit, um 9 Vergl. ausf. Kirchhoff W. Faschismusrezeption der deutschen Zahnärzteschaft – die Wahrheit verjährt nicht. In: Kirchhoff W / Heidel CP. „…total fertig mit dem Nationalsozialismus“? Die unendliche Geschichte der Zahnmedizin im Nationalsozialismus. Frankfurt 2016. S.325–426. 84 | GESELLSCHAFT
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