Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 9

zm 111, Nr. 9, 1.5.2021, (781) KOMMENTAR 1 Jeder Zahnarzt hat in seiner Praxis das Hausrecht D ie beschriebene Situation tan- giert neben der ethischen Be- trachtung auch eine mögliche strafrechtliche Komponente. Als Arzt wird man sehr schnell mit dem Vorwurf unterlassener Hilfeleistung konfrontiert. Das allgemeine Gebot „Grundsätzlich besteht die allgemeine Pflicht, in Notsituationen Hilfe zu leisten“ wird bei Medizinern aufgrund der Garantenstellung, basierend auf der speziellen Ausbildung und ins- besondere ihrer Zugehörigkeit zu den Heilberufen, besonders strikt ausge- legt. Dem gegenüber steht der Vorbehalt der Zumutbarkeit. Gemäß § 323 StGB ist die Unterlassung einer Hilfeleis- tung nur dann strafbar, wenn diese Hilfeleistung zum einen erforderlich, zum anderen jedoch auch dem Helfer „zuzumuten“ gewesen ist (Quelle: https://www.koerperverletzung.com/ unterlassene-hilfeleistung/) . Eine Komponente ist dabei auch die Mit- arbeit der Patienten. Somit ist die Verpflichtung zur Hilfeleistung im Kontext mit anderen Rechtsgütern zu sehen. Zur Betrachtung des ethischen Di- lemmas werde ich die Prinzipienethik nach Beauchamps und Childress anwenden. Frau O. wünscht eine schnelle Schmerzbehandlung. Der Respekt vor der Patientenautonomie würde also (ungeachtet des Hygiene- konzepts) eine solche Behandlung gebieten. In Bezug auf das Prinzip der Schadens- vermeidung (Non-Malefizienz) sind zwei Bereiche (Patienten- und Praxis- ebene) zu betrachten: \ Patientenebene: Das Risiko, dass sich bei Unterlassen einer Therapie über einen längeren Zeitraum der Zustand von O. verschlechtert, ist als groß einzuschätzen. \ Praxisebene: Dem gegenüber steht die Gefahr, dass sich (insbesondere) andere Patienten oder Teammit- glieder durch die Nichtbeachtung geltender Hygienevorschriften infizieren. Beim Prinzip der Fürsorge beziehungs- weise beim Wohltunsgebot (Benefi- zienz) sind ebenfalls mehrere Aspekte zu beleuchten. Auch hier gibt es die geschilderten zwei Ebenen. Prinzi- piell möchte man als Arzt zuallererst seinem Patienten helfen, indem man in einem solchen Fall die Schmerzen beseitigt. Gleichwohl müssen die an- deren Patienten dem Hygienekonzept und dem Arzt bei dessen Umsetzung vertrauen können. Sofern sich ein anderer Patient oder sogar ein Mit- arbeiter in der Praxis aufgrund eines (wie auch immer herbeigeführten) Mangels infiziert, wird dieses Ver- trauen grundlegend zerstört. Hygiene muss als (zahn-)ärztliche Kernkompe- tenz praktiziert und wahrgenommen werden. Wie bei den vorangegangenen Prinzi- pien kommen auch bei der Gerech- tigkeit zwei grundsätzliche Aspekte zum Tragen. Jeder andere Patient würde eine zeitnahe Schmerzbeseiti- gung erwarten können. So gebietet es die Gerechtigkeit, dass auch Frau O. sich darauf verlassen kann. Auf der Praxisebene haben sich alle Patienten und Praxismitarbeiter an die durch die aktuellen Verordnungen gelten- den Hygienemaßnahmen zu halten und willigen durch das Passieren der entsprechenden Schilder an der Praxistür in diese ein. Es wäre un- gerecht, wenn deren Gesundheit durch eine Person, die dies trotz wei- terer deutlicher Hinweise ignoriert, gefährdet wird. Fazit: Im dargestellten Fall ist aus juristischer Sicht abzuwägen, ob das Einhalten des Hygienekonzepts (ba- sierend auf entsprechenden Erlassen) – dessen Ziel die Eindämmung einer potenziell lebensbedrohlichen, in vielen Infektionsfällen jedoch zu- mindest mit erheblichen Spätfolgen verbundenen Pandemie ist – höher wiegt als die unverzügliche Schmerz- DR. MED. DENT. DIRK LEISENBERG Ringstr. 52b, 36396 Steinau leisenberg@ak-ethik.de Foto: privat PRAXIS | 15

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=