Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 9

zm 111, Nr. 9, 1.5.2021, (784) DIE PRINZIPIENETHIK Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instru- menten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die Fürsorge- Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinter- legt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patienten- autonomie, das Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz) und das Wohltuns- gebot (Benefizienz) – fokussieren aus- schließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Ge- samtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth nach den erwähnten Vorgaben aus- zugestalten. Dabei wird speziell die Maskenpflicht – wie auch andere (passagere) Beschränkungen der Freiheitsrechte – auf die General- ermächtigung des § 28 Abs. 1 Infek- tionsschutzgesetz gestützt. In dieser Frage besteht hinreichende Rechts- klarheit: Die allgemeine Maskenpflicht in Innenräumen (Geschäfte, Praxen, ÖPNV) hatte und hat vor dem Bun- desverfassungsgericht und den bun- desdeutschen Gerichten größtenteils Bestand. Begründet wurde und wird dies mit dem gebotenen Schutz der Gesundheit der Allgemeinheit und der erforderlichen Eindämmung der Ausbreitungsgeschwindigkeit des COVID-19-Virus. Bleibt die ethische Perspektive. Hier er- scheint es sinnvoll, die vier ethischen Prinzipien zu betrachten, die im Um- gang mit Patienten zu wahren sind. Dabei gilt es, (1) den Respekt vor der Patientenautonomie, (2) das Gebot der Fürsorge (Benefizienz), (3) das Nicht- schadensgebot (Non-Malefizienz) und (4) Gerechtigkeitsaspekte zunächst je- weils einzeln zu analysieren und nachfolgend im Bedarfsfall gegen- einander abzuwägen: Im vorliegenden Fall verweist O. auf ihre Selbstbestimmung und lehnt eine Einhaltung der AHA-Regeln dezidiert ab, weil sie hierin einerseits eine persönliche Zumutung sieht („Es müsse doch reichen, wenn sie ‚ zur Not‘ mit einem Tuch Nase und Mund bedecken würde. Auf keinen Fall könne sie so lange stehen, und vom Desinfektionsmittel bekomme sie einen schlimmen Hautausschlag.“) und andererseits den grundsätzlichen Bedarf derartiger Schutzregeln an- zweifelt („Sie kenne niemanden, der diese vermeintliche Erkrankung ge- habt habe, und habe auch keine Lust, sich ,von der Panik anstecken‘ zu lassen.“). Die Achtung der Patientenautonomie kollidiert hier jedoch zahnärztlicher- seits mit dem Fürsorgegebot: Um das Wohlergehen aller Patienten best- möglich zu schützen, bedarf es der Einhaltung der AHA-Regeln. Schert eine Person aus diesem Regelwerk aus, bedeutet dies ein Risiko für alle Anwesenden. Dieses Risiko ist des- halb unbotmäßig, weil es der Patien- tin O. ohne Weiteres möglich wäre, zur Gefahrenminimierung beizutra- gen, und sie dies allein aus Eigen- interesse – negativ formuliert: aus mangelnder Solidarität – nicht tut. (Anders wäre es zu bewerten, wenn die Patientin aus gesundheitlichen Gründen von der Maskenpflicht be- freit wäre und sich ansonsten ein- sichtig zeigte. Beides ist hier jedoch nicht der Fall.) Auch das Nicht-Schadensgebot weist in diese Richtung: Es bedeutet kon- kret, dass P. im Rahmen ihrer Mög- lichkeiten dafür Sorge tragen muss, dass ihren Patienten kein vermeid- barer Schaden entsteht. Daraus folgt ebenfalls, dass sie die Einhaltung der AHA-Regeln sicherstellen muss. Last not least ist das Prinzip der Gerechtigkeit anzusprechen: Es wäre ungerecht, eine einzelne Patientin gleichsam „auf Zuruf“ von der AHA- Regel freizustellen und ihr überdies, wie von ihr gefordert, „eine schnelle Schmerzbehandlung“ zukommen zu lassen, während alle anderen sich an die Regeln und an das „first come, first serve“-Prinzip halten. In der Summe ist hier somit die Ach- tung der Patientenautonomie gerin- ger zu gewichten als die drei übrigen Prinzipien, die allesamt ein Festhal- ten an den AHA-Regeln nahelegen. Das Einzelinteresse muss in der skiz- zierten Pandemiesituation hinter das Gemeinwohl und Solidaritätspflich- ten zurücktreten. Allerdings gebietet es der Respekt vor der Patientenautonomie, mit der uneinsichtigen Patientin ein Auf- klärungsgespräch zu führen. Hierbei sollte P. die medizinische Sinnhaftig- keit und die rechtliche Notwendig- keit der Einhaltung der AHA-Regeln darlegen. Zugleich sollte sie O. deut- lich machen, dass in ihrem Fall ein Behandlungsbedarf besteht, dem sie als Zahnärztin sehr gerne nach- kommen würde – freilich unter Ein- haltung der besagten Kautelen. Wenn die Patientin trotz dieses differen- zierten Gesprächs keine Einsicht zeigt, hat P. ihrer Aufklärungs- und 18 | PRAXIS

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