Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 14
zm 111, Nr. 14, 16.7.2021, (1359) oder gesprochen – zu verstehen und zu reproduzieren, wird unter dem Begriff Natural Language Processing (NLP), also natürliche Sprachprozes- sierung, zusammengefasst. NLP er- laubt es Computern, Bedeutung aus Text und Sprache abzuleiten, diese zu übersetzen oder auch selbst zu gene- rieren. Gerade die vergangenen Jahre haben hier eine enorme Dynamik ge- bracht. Neue Modellarchitekturen, hier vor allem die sogenannten Transformer-Netzwerke, erlauben die Berücksichtigung längerer und kom- plexerer Textsequenzen, so dass Mo- delle und Anwendungen entstehen, die in der Lage sind, thematisch zusammenhängende und stilistisch konsistente Texte zu generieren. Diese können nicht mehr von Texten, die von realen Personen geschrieben wurden, unterschieden werden. Für medizinische Anwendungsfälle kann NLP helfen die vorhandenen, unstrukturierten Mengen an Text- daten in elektronischen Patienten- akten, aber auch beispielsweise in E-Mail-Verkehren nutzbar zu machen, ohne dabei auf intensives Redigieren durch Menschen angewiesen zu sein. So könnten die oftmals enorm gro- ßen, vorhandenen Datenmengen zu jedem einzelnen Patienten in jeder Praxis erschlossen, systematisiert und rasch zugreifbar gemacht werden – mit einem Klick. Auf diesen Daten könnten dann Vorhersagemodelle, etwa zum Zahnverlustrisiko von Parodontitis- patienten, entwickelt werden. In der Forschung konnten solche Ansätze bereits getestet werden: Zahnärztliche Patientenakten wurden mit NLP analysiert und darauf bereits Spracherkennungsmodelle trainiert [Chen et al., 2021]. In ähnlicher Weise wurde NLP verwendet, um Patienten mit bestimmten Schmerzcharakteris- tika zu identifizieren, die anschlie- ßend eine Vorhersage von Kiefer- gelenkserkrankungen ermöglichten [Nam et al., 2018]. Die Kombination von NLP mit computerbasiertem Sehen (Computer Vision) ermöglicht auch die automatisierte Beschriftung von Bildmaterial in Patientenakten – vorhandene Bildbibliotheken können so rückwirkend systematisiert und archiviert werden. Generell können computergenerierte Diagnosen dazu dienen, eine systematischere Ver- schlagwortung auch in der zahn- medizinischen Praxis im Hintergrund – ohne großen Aufwand für den Zahnarzt – zu ermöglichen. Viel relevanter für den Praktiker wird die Möglichkeit zur Spracherkennung und Transkription von Patienten- gesprächen sein: Computer werden zukünftig beispielsweise Aufklärungs- gespräche mitverfolgen, diese auto- matisiert zusammenfassen und be- stimmte, juristisch relevante Ab- schnitte gezielt wörtlich ablegen. Ebenso könnten Planungsdiskussio- nen, zum Beispiel zu prothetischen Versorgungen, oder auch die einfache Ansage des klinischen Befunds durch Computer erfasst, sinnvoll gekürzt und systematisiert abgelegt werden – während sich die Zahnmedizinische Fachangestellte stattdessen anderen Aufgaben zuwendet. NLP könnte dem- nach die Dokumentationsqualität er- höhen und das zahnärztliche Team entlasten [Shickel et al., 2018]. COMPUTER KÖNNEN VORHERSAGEN Neben der Analyse von Bildern oder Texten ist ein zentrales Feld der An- wendung von KI in der Medizin die Vorhersage. Ärztinnen und Ärzte sind an der Prognose von Erkrankungen interessiert, um diese frühzeitig be- handeln oder gar verhindern zu kön- nen. Ebenso ist die Vorhersage von bestimmten Krankheitsereignissen wichtig, um eine etwaige Therapie entsprechend darauf abzustimmen. Generell wäre eine vorhersagende Medizin in der Lage, präventiver zu wirken, präziser zu behandeln, Diagnostik und Therapie personali- sierter auf das einzelne Individuum abzustimmen und dieses Individuum am Behandlungsprozess partizipieren zu lassen (Abbildung 5). Diese soge- nannten „4 P“ – Personalisierung, Präzision, Prävention und Partizipa- tion – sind ohne KI nicht denkbar. Und selbst mit KI ist es noch ein lan- ger Weg, bis die P4-Medizin Realität werden kann [Flores et al., 2013]. Für die Zahnmedizin wäre eine solche präzise und individuelle Vor- hersage von Erkrankungen oder Krankheitsereignissen ein großer Ge- winn: Patienten, deren Karies- oder Parodontitisrisiko hoch ist, könnten anders – hochfrequenter und intensi- ver – betreut werden, um den Erkran- kungsbeginn zu verhindern oder hinauszuzögern. Schon heute gibt es eine Reihe von Vorhersagemodellen für Karies und Parodontitis, die (unter anderem) auf bekannte Risiko- faktoren wie Ernährung, Rauchen oder Mundhygiene als Vorhersage- faktoren setzen. Die Genauigkeit die- ser Modelle ist jedoch stark begrenzt: Oftmals ist der wichtigste Vorhersage- faktor eine zurückliegende Erkran- kungserfahrung. Ein Patient, der be- reits aufgrund von Karies Füllungen benötigte, hat ein deutlich erhöhtes Risiko, auch zukünftig neue kariöse Läsionen zu entwickeln. Für eine echte Vorhersage ist dies natürlich enttäuschend wenig – müssen wir doch darauf warten, dass die Erkran- kung eintritt, bevor wir den Risiko- patienten identifizieren können! Die große Hoffnung liegt daher auf der Aufbereitung und Analyse der Pa- tienten- und Metadaten durch KI, um besser zu verstehen, wie und warum zahnmedizinische Erkrankungen in- dividuell auftreten und verlaufen. Die Nutzung des riesigen Datenpools aus Abrechnungsdaten, Bild- und Sprach- daten oder auch patientengenerierten Daten zu Mundhygiene oder Ernäh- rung – oder gar seiner weitergehenden sozialen Umstände – könnten hier Licht ins Dunkel bringen. Das Poten- zial, auch aus zunächst ungewöhn- lichen Daten, beispielsweise Social- Media-Nachrichten, Vorhersagen zu Erkrankungsrisiken ableiten zu kön- nen, ist bereits eindrücklich demons- triert worden: So konnte in einer Stu- die aus den USA aus Twitterdaten, die auf Emotionsmuster untersucht wur- den, mit hoher Genauigkeit für einen kleinräumigen Bereich (ähnlich einer Gemeinde) das Risiko, an Herz-Kreis- lauf-Erkrankungen zu versterben, vor- hergesagt werden [Eichstaedt et al., 2015]. Die Vorhersagegenauigkeit war dabei deutlich höher als bei der Nutzung konventioneller Vorhersage- parameter wie etwa Gewicht oder Diabetes. Dies ist faszinierend – sind doch die Twitternutzer überwiegend nicht die Risikogruppen für Herz- Kreislauf-Erkrankungen! Was statt- dessen durch die Nutzung dieser Daten offensichtlich gelingt, ist eine ZAHNMEDIZIN | 61
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