Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 14
zm 111, Nr. 14, 16.7.2021, (1361) verständlich Telesprechstunden an. Bestimmte Flächenländer wie Kanada oder Australien betreiben schon seit Jahren für bestimmte Regionen und Bevölkerungsgruppen auch telezahn- medizinische Angebote, unter ande- rem um große Distanzen zu überwin- den und etwaige zahnmedizinische Besuche optimal und zielgerichtet planen und durchführen zu können. In Deutschland war dies bisher wenig verbreitet, hat jedoch im vergangenen Jahr für die telezahnmedizinische Betreuung von Pflegebedürftigen (Vi- deosprechstunde, Videokonsil) auch einen Rechtsrahmen erhalten. Allerdings ist Telezahnmedizin dann doch etwas anderes als Telemedizin beim Allgemein- oder Hautarzt, unter anderem weil der Patient nur schwer- lich ein Foto mit seinem Smartphone von der Okklusalfläche des Zahnes 17 zustande bringt! Exakt eine solche Art von Fotodiagnostik ist in anderen medizinischen Feldern jedoch die Grundlage, um KI-Anwendungen sinnvoll in der Telemedizin einsetzen zu können: So lassen sich heute Foto- grafien der Haut problemlos durch KI-Algorithmen analysieren, bei- spielsweise durch den Patienten selbst oder durch seinen Hausarzt. Das Ergebnis einer solchen KI- Vorbefundung kann dann genutzt werden, um eine informierte Termin- absprache beim Dermatologen zu machen: Durch das Priorisieren von jenen Fällen, in denen die KI etwa eine maligne Hautveränderung ver- mutet, würden die Betroffenen zügi- ger einen „Prio-Termin“ erhalten – was bei teilweise monate- oder (in anderen Gesundheitssystemen) jahre- langen Wartezeiten auf Facharzt- termine einen riesigen Unterschied in der Behandelbarkeit und Prognose bedeuten kann! Zwingend notwendig ist hierbei natürlich das Augenmerk der KI auf Sicherheit – nur Haut- veränderungen, die mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit nicht maligne sind, sollten dann auch so klassi- fiziert werden. Ist die KI unsicher, darf dies nicht zu einer „Herabpriori- sierung“ führen. In der Zahnmedizin ist eine solche Fotodiagnostik (wie dargelegt) nicht immer gut möglich, unter anderem weil intraorale Fotografie anspruchs- voll und oft auch mit zusätzlichen technischen Aufwänden verbunden ist. Auch kommt der Zahnarzt oft ohne weitergehende Diagnostik (Röntgenbild, physische Tests) nicht weit. Allerdings zeigen erste Ansätze, beispielsweise zur KI-gestützten Über- wachung der häuslichen Mund- hygiene, großes Potenzial. Generell werden gerade Patienten durch KI mehr über ihre Gesundheit erfahren wollen und können – und dabei zukünftig wie selbstverständlich die Diagnosedaten ihrer letzten zahn- medizinischen Besuche, ihrer Rönt- genbilder oder Befunde einsetzen, unter anderem weil diese digitalen Daten nicht mehr länger im Praxis- schrank des Zahnarztes verschlossen sind, sondern allen Behandlern und eben dem Patienten selbst zur Verfü- gung stehen. Die Zahnmedizin sollte dies als Chance begreifen und nicht als Bedrohung – und sich aktiv dabei einbringen, die Herausforderungen einer solchen neuen „zahnmedizi- nischen Welt“ zu meistern. GRENZEN UND HERAUSFORDERUNGEN Bisher trifft KI für die Zahnmedizin auf eine Reihe von Grenzen und auf diverse Herausforderungen, die es zu überwinden gilt [Schwendicke et al., 2020]. \ Vertrauen und Verantwortung: KI-Algorithmen sind oft komplex und nicht leicht zu interpretieren; Nutzer müssen der KI vertrauen können. Zahnmedizinische KI sollten sich denselben Anforderun- gen stellen wie andere Medizin- produkte, sie sollte evidenzbasiert sein und nachweislich vertrauens- würdig. Auch sollten KI-Entschei- dungsprozesse transparent, erklär- bar – kurzum nachvollziehbar – sein. Nur dann kann der Nutzer – oftmals der Zahnarzt – auch die Verantwortung für die sich anschließenden Diagnostik- und Therapieschritte übernehmen: Er muss KI verstehen und erklären können, denn sonst ist ein kritischer, wertender Umgang nicht möglich. Dies heißt dann auch: Zahnärzte müssen in die Lage versetzt werden, KI-Modelle zu verstehen und kritisch zu hinterfragen – die universitäre, aber auch die postgraduale Ausbil- dung muss sich zeitnah vermehrt der Frage einer „Digital Literacy“ zuwenden. \ Ressourcen: Die Daten, die zum Training von KI, aber auch bei der Nutzung von KI-Modellen einge- setzt werden, erfordern oft große Speicherkapazitäten und Rechen- leistungen, zudem müssen sie übertragen werden. In allen drei Domänen ist bisher nicht klar, ob ein weiterer exponentieller Anstieg an Leistungsumfang zukünftig UNIV.-PROF. DR. MED. DENT. FALK SCHWENDICKE Direktor der Abteilung Orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung, Charité – Universitätsmedizin Berlin falk.schwendicke@charite.de \ 2009–2012: Zahnarzt in freier Praxis in Deutschland und Großbritannien \ 2012: Assistenzarzt, UKSH Kiel \ 2013: Oberarzt, Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin \ seit 2018: Sprecher der Gruppe Zahnmedizin in der WHO/ITU- Fokusgruppe AI4Health \ seit 2020: Direktor der Abteilung für Orale Diagnostik, Digitale Zahn- heilkunde, Versorgungsforschung an der Charité-Universitätsmedizin Berlin \ seit 2021: Mitglied der FDI- Arbeitsgruppe KI und Zahnmedizin \ Associate Editor des Journal of Dental Research Foto: privat ZAHNMEDIZIN | 63
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