Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm 111, Nr. 15-16, 16.8.2021, (1440) KOMMENTAR 1 Am Anfang steht das kollegiale Gespräch Bei dieser Fallvignette werden drei Diskussionspunkte evident. 1. Wie sicher ist eigentlich eine Versorgung mit einem mittigen Einzelzahnim- plantat im zahnlosen Kiefer bezogen auf die Langzeitbewährung und die prothetische Versorgung? Welcher der beiden Ärzte hat hier recht? 2. Welche Verpflichtung hat S. dem Patienten gegenüber, der ihm mit dem erneuten Anruf sein Vertrauen ausspricht? 3. Wie kann S. seiner ärzt- lichen Überzeugung gerecht werden, ohne zugleich seinen Vorgesetzten vor den Kopf zu stoßen? Für diese Analyse, die auch ethische Dilemmata beinhaltet, bietet sich die sogenannte Prinzipienethik nach Beauchamp und Childress an. Hierbei werden vier ethische Prinzipien bewer- tet und gegeneinander abgewogen. Die Prinzipien (1) Patientenautonomie, (2) Nichtschadensgebot und (3) Wohl- tunsgebot zielen primär auf das Patien- tenwohl ab. Das vierte Prinzip Gerech- tigkeit bezieht weitere Personengrup- pen, wie den Zahnarzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft mit ein. PATIENTENAUTONOMIE Der Patient Erwin W. ist in der Lage, sehr klar und nachvollziehbar zu ver- mitteln, dass er mit der vorhandenen Prothese keine ausreichende Kau- fähigkeit erzielt und seine mund- bezogene Lebensqualität hierdurch maßgeblich eingeschränkt ist. Gemeinsam mit dem Vorbehandler hat er bereits viel investiert, um die Funktion der Totalprothese zu verbes- sern. Der jetzige Behandlerwechsel lässt seinen hohen Leidensdruck und seine Entschlossenheit erkennen, das Problem sinnvoll lösen zu wollen. Ebenso zeigt der erneute Anruf am nächsten Tag bei S., wie stark sein Wunsch nach einer deutlichen Ver- besserung der Situation ist. Daraus lässt sich schlussfolgern, dass W. un- ter Berücksichtigung seiner kleinen Rente und der geschilderten guten klinischen Bewährung des mittigen Einzelimplantats genau diese Versor- gung wünscht und keine andere. NICHTSCHADENSGEBOT (NON-MALEFIZIENZ) Hier ist der objektive Wissensstand von S. von der subjektiven Bewer- tung durch H. zu unterscheiden. S. hat sich über den aktuellen Stand dieser Therapieform informiert. So liegen dazu inzwischen auch pro- spektive randomisierte Studien vor, die eine Verbesserung der Lebensqua- lität, eine gute Langzeitbewährung für das Implantat und der Prothese sowie einen relativ geringen Nachsor- geaufwand aufzeigen. Da H. dieses Konzept als „blanken Unsinn“ be- zeichnet, scheint er über die aktuelle Studienlage entweder nicht ausrei- chend informiert zu sein oder aber er hält die überschaubare Anzahl der vorliegenden Studien für noch nicht ausreichend für einen klinischen Routineeinsatz der Methode. Dabei ist der Einwand von H. sicher nicht ganz unberechtigt. Denn zwei Implantate im zahnlosen Kiefer gel- ten heute als die vorhersagbare und zuverlässige Standardversorgung. Dies ist durch viele klinische Untersu- chungen abgesichert. Weiter liegt be- lastbare Evidenz vor, dass die „Über- lebensraten“ der Implantate bei vier Implantaten nochmals minimal bes- ser sind als bei nur zwei Implantaten. WOHLTUNSGEBOT (BENEFIZIENZ) Man kann davon ausgehen, dass sich durch Implantation eines mittigen Implantats und einer Verankerung der Prothese über ein Druckknopf- attachment die Kaufunktion, die Lebensqualität und damit auch das Wohlbefinden des Patienten stark ver- bessern werden. Unsicherheit bringt allerdings die von S. beschriebene aus- geprägte Alveolarkammatrophie mit sich. Denn in der aktuellen multizen- trischen Studie dazu wurden nur Patienten eingeschlossen, die noch einen ausreichenden Alveolarkamm aufwiesen. Ob dieser bei W. noch gege- ben ist, müsste eine weiterführende Befundung zeigen. Im Übrigen ist mit einem mittigen Implantat auch keine „Einbahnstraße“ beschritten. Falls der Patient damit nicht zurechtkommen sollte, bestünde immer noch die Opti- on zweier weiterer Implantate in der UNIV.-PROF. DR. STEFAN WOLFART Zentrum für Implantologie Universitätsklinikum Aachen, Medizinische Fakultät RWTH Aachen University Pauwelsstr. 30, 52074 Aachen swolfart@ukaachen.de Foto: privat 38 | ZAHNMEDIZIN

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