Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16

zm 111, Nr. 15-16, 16.8.2021, (1442) PROF. DR. DR. FRAUKE MÜLLER Division de gérodontologie et prothèse adjointe, Clinique universitaire de médecine dentaire, CMU, 1 rue Michel-Servet, CH-1211 Genève 4 frauke.mueller@unige.ch Foto: privat KOMMENTAR 2 Neben der Evidenz zählt auch die Erfahrung Der in der Vignette beschriebene Fall ist in vielerlei Hinsicht klassisch und stellt den jungen Kollegen vor kli- nisch-ethische Entscheidungen, aber auch die Loyalität zu seinem Arbeit- geber ist zu berücksichtigen. Bei dem 78-jährigen W. wurden zwar in den vergangenen Jahren zwei neue Prothesen und mehrere Unterfütterun- gen durchgeführt; dies heißt jedoch nicht automatisch, dass die Unterkie- ferprothese optimal gestaltet und der starken Kieferkammatrophie angepasst ist. Der zunehmende Erhalt der eige- nen Zähne bis in ein höheres Lebens- alter hat zur Abnahme der Versorgung mit Totalprothesen in der zahnärztli- chen Praxis geführt, wodurch leider viel klinische Kompetenz verloren ging. Viele Kollegen fertigen nur noch selten Totalprothesen an; sie überwei- sen diese Patienten lieber einem „alten Hasen“ als mit ihren eigenen Versu- chen Zeit zu verlieren. Die erste Maßnahme des jungen Kolle- gen sollte daher sein, die Qualität der vorhandenen Prothese zu beurteilen, denn auch eine implantatgetragene Unterkiefertotalprothese muss funktio- nell optimal gestaltet sein, um die Implantate nicht zu gefährden. Nun gehen wir einmal davon aus, dass die Prothese von W. funktionell opti- mal gestaltet war und seine Kauproble- me wirklich und ausschließlich durch den stark atrophierten Unterkiefer- kamm bedingt sind. In dieser klinisch recht häufig auftretenden Situation können Implantate eine signifikante Verbesserung darstellen. Gerade die implantatgetragene Deckprothese ist in der Wissenschaft umfangreich untersucht, und die funktionellen Ver- besserungen sind bestens dokumen- tiert. Hinzu kommt die Verbesserung der mundgesundheitsbezogenen, aber auch der allgemeinen Lebensqualität. Eine kleine Intervention hat also einen Effekt, der weit über die Mundhöhle hinausgeht und nachhaltig das Leben des Patienten verändert. S. kennt die diesbezügliche Literatur aus seiner Zeit in der Uni und jetzt auch noch von seinem kürzlich besuchten Fortbildungskurs. Klinische Studien zu Unterkieferprothesen mit einem zentral eingebrachten Implan- tat mit Knopfanker zeigen über einen Beobachtungszeitraum von fünf Jah- ren ausgezeichnete Überlebensraten für das Implantat und eine hohe Patientenzufriedenheit. S. ist zu Recht überzeugt, dass auch ältere Patienten an den Fortschritten in der Zahnheil- kunde teilhaben und nicht als „zu alt“ abgestempelt werden sollten. Die Überlebensraten von Implantaten bei alten und auch sehr alten Patienten sind durchaus vergleichbar mit denje- nigen bei jüngeren Patienten. Durch das vorgestellte Behandlungs- konzept mit einem zentralen Implan- tat im Unterkiefer könnte er dem Pa- tienten zu einem moderaten Preis eine im Vergleich zum konventionellen, schleimhautgetragenen Zahnersatz funktionell hochwertigere Unterkiefer- prothese anbieten. Sein Chef H. bezeichnet das betreffen- de Implantatkonzept jedoch als expe- rimentell und möchte es nicht in seiner Praxis angewendet wissen. Zudem tritt er barsch auf und ver- schüchtert seinen jungen Kollegen. „Wer schreit, hat Unrecht“ weiß dieser von seinen Eltern, und so misstraut er dem Urteil des älteren Kollegen, obwohl er Argumenten gegenüber grundsätzlich offen ist. Aber hat der ältere Kollege möglicher- weise aufgrund seiner Erfahrung ein Wissen, das der junge nicht in der Bibliothek gefunden hat? Oder gibt es noch Aspekte, die wichtig, aber nicht ausreichend erforscht sind? So ist rich- tig, dass es bisher nicht untersucht ist, ob bei einem zentral eingebrachten Implantat der zusätzliche Freiheitsgrad (die Prothese kann sich um das Im- plantat drehen) nicht eine verstärkte Resorption der posterioren Kiefer- kammabschnitte, besonders der latera- len Anteile der Alveolarfortsätze, verur- sacht. Auch ist die Evidenzlage bezüg- lich des prothetischen Nachsorgebe- darfs noch nicht eindeutig. Einige Studien berichten von zahlreichen Prothesenfrakturen im Bereich des Im- plantats, andere bestätigen dies nicht. Einzelne Patienten sind trotz anfängli- 40 | ZAHNMEDIZIN

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