Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 15-16
zm 111, Nr. 15-16, 16.8.2021, (1443) chem Enthusiasmus bereits nach ei- nem Jahr wieder unzufrieden mit ihrer Versorgung. Der ältere Kollege könnte zudem Argu- mente einbringen, die eher einer lang- jährigen „prothetischen Intuition“ entspringen als wissenschaftlicher Evi- denz. Warum ein Implantat setzen, wo die Natur den Unterkiefer mit einer Sutur und anatomischen Strukturen wie einem lingualen Inzisalkanal ver- sehen hat? Warum dort ein Implantat setzen, wo am wenigsten Platz für das Attachment ist? Der Unterkiefer- schneidezahnbereich einer Prothese ist in der Regel schmal, die Implantatver- ankerung könnte die linguale Prothe- senform unnatürlich verdicken. Und vor allem: Warum eine Prothese dort unterstützen, wo gar keine Kaukräfte auftreten? Natürlich ist S. in der Behandlungspla- nung und -durchführung den Regeln der zahnärztlichen Kunst und seinem professionellen Gewissen verpflichtet. Sollte H. auf der Position beharren, dass S. gegen besseres Wissen behan- delt, so kann man Letzterem nur anra- ten, die Praxis zu wechseln. In der vorliegenden Situation tut der junge Assistent S. jedoch gut daran, für die klinische Therapieentschei- dung zusätzlich zur vorhandenen wissenschaftlichen Evidenz die Erfah- rung seines älteren Kollegen zu be- rücksichtigen. Er könnte das Implan- tat anstelle an der zentralen Unterkie- ferregion in der Eckzahnregion der Kauseite des Patienten setzen. So wäre das Implantat näher am Kauzentrum lokalisiert und hätte eine bessere Stützfunktion beim Kauen. Auch ist in der Eckzahnregion mehr Platz für die Suprastruktur, da die Prothese hier voluminöser ist. Sollte der Patient mit dem Halt der Prothese mittel- oder langfristig nicht zufrieden sein, so wä- re es ohne Kompromiss bezüglich der Implantatposition zu einem späteren Zeitpunkt möglich, ein weiteres Implantat zu setzen. Mit diesem Kon- zept wären die Argumente des Praxis- inhabers H. und des jungen Kollegen S. jeweils berücksichtigt und ein Kon- flikt könnte umgangen werden. S. sollte also den Anruf des Patienten annehmen und ihn zu einer neuerli- chen Besprechung des Therapieplans, gemeinsam mit seinem Vorgesetzten H., einladen. Nur in einem persönli- chen Gespräch und nach klinischer Untersuchung des Patienten und Ana- lyse der anatomischen Gegebenheiten kann ein sowohl evidenzbasierter als auch klinisch fundierter Behandlungs- plan erstellt werden. Gerade bei zahnlosen Patienten ist es wichtig, die Wünsche und Erwartungen des Patienten zu eruieren und mit den realistischen restaurativen Möglichkei- ten in Einklang zu bringen. \ KOMMENTAR 3 Hier ist Diplomatie gefragt Im geschilderten Szenario ergibt sich für S. eine komplexe Dilemma- situation: Er übernimmt die Behand- lung beziehungsweise Beratung eines Patienten seines Chefs und gelangt in dieser Funktion in die Garanten- stellung gegenüber dem Patienten. Sein Fokus muss also darauf liegen, alles zu tun, um dem Patienten und dessen Wohl gerecht zu werden. S. erfüllt diese Funktion, indem er dem Rentner für die Versorgung des zahn- OBERSTARZT PROF. DR. RALF VOLLMUTH Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr Zeppelinstr. 127/128, 14471 Potsdam vollmuth@ak-ethik.de Foto: Bayer OBERFELDARZT DR. ANDRÉ MÜLLERSCHÖN Sanitätsversorgungszentrum Neubiberg Werner-Heisenberg-Weg 39 85579 Neubiberg andremuellerschoen@bundeswehr.org Foto: privat ZAHNMEDIZIN | 41
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=