Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17
zm 111, Nr. 17, 1.9.2021, (1595) Nach krestaler Schnittführung erfolgte die Darstellung des vestibulären Unterkiefers. Beginnend am Foramen mentale wurde mittels Piezochirurgie eine schonende Osteotomie des Kno- chens entlang des Nervverlaufs durch- geführt. Nach Darstellung des retro- molaren Anteils des Nervkanals zeig- ten sich eine deutliche Kontinuitäts- unterbrechung des Nervus alveolaris inferior ebenso wie eine neurinom- verdächtige Struktur, die im Rahmen der Operation entfernt werden konnte (Abbildung 3). Nach Entnahme des Nervus-suralis-Interponats aus der rechten Knöchelregion (Abbildung 4) wurde der residuale Nervus alveolaris inferior angefrischt und das Interponat mittels intrafaszialer Nähte (Größe 10-0) mit den beiden Enden des Ner- vus alveolaris inferior anastomisiert (Abbildung 5). Anschließend wurde der Nerv mit einer Platelet-rich-fibrin (PRF-)Membran abgedeckt und der entstandene Defekt mit dem entnom- menen Knochendeckel verschlossen (Abbildung 6). Der weitere postoperative Verlauf gestaltete sich unter antibiotischer Therapie mit Cephalosporinen unter adäquater Analgesie unauffällig, so dass die Patientin nach einem zwei- tägigen stationären Aufenthalt in die ambulante Weiterbetreuung ent- lassen werden konnte. Schon zwei Wochen postoperativ berichtete die Patientin über eine Verbesserung der neuropathischen Schmerzen ebenso wie über ein lang- sam zunehmendes „Kribbeln“ im Bereich der Unterlippe und des Kinns. Nach weiteren vier Wochen zeigte sich der Erfolg des operativen Eingriffs durch die Rückkehr der sen- siblen Empfindungen in den zuvor vollkommen anästhetischen Bereich. Bei einer Nachsorgezeit von nun- mehr einem Jahr ist eine Sensibilität von 60 bis 70 Prozent im Vergleich zur Gegenseite wiederhergestellt. DISKUSSION Die Osteotomie impaktierter Weis- heitszähne gehört zu den am häufigs- ten durchgeführten dentoalveolären chirurgischen Eigriffen weltweit. Auf- grund der engen Lagebeziehung zu relevanten Strukturen wie dem Ner- vus alveolaris inferior und dem Ner- vus lingualis stellt dieser Eingriff trotz seiner Häufigkeit immer wieder eine Herausforderung dar. Die Inzidenz von Nervenschäden im Rahmen von chirurgischen Interventionen wird für den Nervus alveolaris inferior mit 0,4 bis 5,5 Prozent, für den Nervus lingualis mit 0,06 bis 10 Prozent an- gegeben; andere Autoren berichten von einer Rate dauerhafter sensorischer Beeinträchtigungen von 0,4 bis 13,4 Prozent [Kushnerev und Yates, 2015]. Auch die Überstopfung von Wurzel- füllmaterial in den Canalis mandibu- laris oder die Insertion von Implanta- ten können zu Druckschäden bis hin zur vollständigen Durchtrennung des Nervens führen [Hölzle et al., 2012; Kämmerer et al., 2015, Kushnerev und Yates, 2015]. Kommt es trotz aller Vorsicht zu einer Beschädigung des Nervus alveolaris inferior, liegt die Heilungsrate auch ohne Zutun des Arztes innerhalb von vier bis acht Wochen bei etwa 96 Pro- zent. Manche Nervenschädigungen hingegen dauern über einen Zeit- raum von sechs Monaten hinaus an und sind mit variablen klinischen Beschwerden – von einer milden Hypästhesie oder einer vollständigen Anästhesie bis hin zu neuropathischen Schmerzen (wie im beschriebenen Fall) – verbunden. Studien zufolge ist schon die Darstellung des neuro- vaskulären Bündels während der Operation mit einem 20-prozentigen Risiko für eine postoperative Par- ästhesie verbunden, die in 70 Prozent innerhalb eines Jahres ohne Interven- tion wieder verschwindet [Sarikov und Juodzbalys, 2014]. Die im Hinblick auf die immense Menge durchgeführter Eingriffe zur Entfernung verlagerter oder retinierter Weisheitszähne (2016: circa 1,26 Mil- lionen Interventionen in Deutschland) auch recht hohe Zahl auftretender Komplikationen veranlasst zur Frage, welche Therapie bei einer vermuteten oder sicheren Schädigung des Nervus alveolaris inferior indiziert ist [Kunkel et al., 2019]. Grundvoraussetzung hierfür sind die fundierten Kenntnisse des Zahnarztes, die eine adäquate Be- CME AUF ZM-ONLINE Reinnervationschirugie nach Durchtrennung des Nervus alveolaris inferior Für eine erfolgreich gelöste Fortbildung erhalten Sie zwei CME-Punkte der BZÄK/DGZMK. Abb. 2: In den MRT-Aufnahmen ist in der sagittalen Darstellung die Unterbrechung des Verlaufs des Nervus alveolaris inferior (hyperintense Struktur) auf der rechten Seite zu erkennen (Pfeil). Im Vergleich zwischen der rechten und der linken Unterkieferseite in der axialen Schicht zeigt sich ein deutlicher Unterschied: Während auf der linken Patientenseite der Nerv (hyperintens) in regio 37/38 unbeeinträchtigt durch den Canalis mandibularis verläuft, ist die Kontinuität auf der rechten Seite sichtbar unterbrochen (Pfeile). Quelle: Kämmerer ZAHNMEDIZIN | 69
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