Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17

zm 111, Nr. 17, 1.9.2021, (1598) Abwägung des Nutzen-Risiko-Profils und unter Einbeziehung des Leidens- drucks des Patienten agiert werden. Eine schon länger zurückliegende Nervenläsion stellt insbesondere dann eine Indikation zur operativen Therapie dar, wenn schmerzhafte Folgezustände – wie im vorgestellten Patientenfall – vorliegen, die mittels peripherer Nervenblockade durch Lokalanästhetika kurzzeitig behoben werden können. Die Definition des Therapieerfolgs ist sehr heterogen, wobei in der Regel keine vollständige Wiederherstellung der ursprünglichen Nervenfunktion erreicht werden kann. Dennoch ist die subjektive Ver- besserung bei den Patienten meist ausgeprägter, so dass der Therapie- erfolg nach Reinnervationschirurgie mit 50 bis 76 Prozent angegeben wird [Hölzle et al., 2012]. Die Praxis der Nervenrekonstruktion ist schon sehr alt (Galen, 2. Jahr- hundert), wurde jedoch zur Zeit des zweiten Weltkriegs aufgrund der hohen Inzidenz nervaler Schäden maßgeblich weiterentwickelt. Trotz der recht unbefriedigenden Therapie- ergebnisse konnte man zwei zentrale Schlussfolgerungen ziehen: 1. Verletzte Nervenendigungen sollten reseziert werden. 2. Eine primäre Rekonstruktion ist nur unter spannungsfreien Zuständen möglich. Erst mit der Entwicklung des Operati- onsmikroskops in den 1960er-Jahren konnte die Reinnervationschirurgie dank der Möglichkeit zur interfaszi- kulären Adaptation der Nervenenden revolutioniert werden. Grundlage für eine erfolgreiche Rege- neration ist das Vorhandensein mög- lichst vieler intakter Neuronen. Da es mit der Zeit zu einem Progress des neuronalen Zelltods kommt, ist eine möglichst frühzeitige Rekonstruktion der axonalen Kontinuität Grund- voraussetzung für den Therapieerfolg. Periphere Nervenverletzungen kön- nen nach Sunderland [1951] in fünf Schweregrade eingeteilt werden, wo- bei es sich bei Grad I um eine reine Nervenkompression und ab Grad II um eine zunehmende Kontinuitäts- unterbrechung des Axons handelt. Ab Schweregrad III ist typischerweise eine chirurgische Intervention notwendig, um eine Regeneration der Nerven- funktion zu erreichen. Hierbei ist so- wohl die epi- als auch die perineurale Nahttechnik möglich – wichtig ist nur, dass es zu einer Adaptation von korrespondierenden Anteilen des Ner- vens kommt. Nach etwa sechs Mona- ten schließt sich das therapeutische Fenster. Auf der Basis von Forschungs- daten ist davon auszugehen, dass es bei einer Rekonstruktion nach einem Jahr zu signifikant schlechteren The- rapieergebnissen kommt [Hölzle et al., 2012; Biglioli et al., 2017]. Wie schon früh in der Geschichte der Nervenrekonstruktion festgestellt, sollte eine End-zu-End-Koaptation nur dann erfolgen, wenn eine span- nungsfreie Adaptation der Enden möglich ist. Ist dies nicht der Fall, ist die Indikation zur Nervenersatz- plastik gegeben. Als Spendernerven eignen sich nur solche Nerven, bei denen der resultierende Funktions- ausfall in Abwägung mit dem zu erwartenden Therapieerfolg eine nur geringe Beeinträchtigung des Patien- ten zur Folge hat. Aus diesem Grund werden ausschließlich sensible Ner- ven, meist der Nervus suralis oder der Nervus auricularis magnus als Nerventransplantate herangezogen. THERAPIE DER NERVENSCHÄDIGUNG IN DER ZAHNHEILKUNDE Mechanismus bekannter/vermuteter Nervenabriss belassene/verlagerte Zahnwurzel Implantat Endodontie Weisheitszahnentfernung Schaden N. alveolaris inferior Weisheitszahnentfernung Schaden N. lingualis Weisheitszahnentfernung Schaden N. alveolaris inferior Weisheitszahnentfernung Schaden N. lingualis Andere (Lokalanästhesie, Fraktur, Operation) Tab. 1, modifiziert nach Renton T et al., 2012 [Renton and Yilmaz, 2012] und Kämmerer, 2018 [Kämmerer 2018] Dauer < 30 Stunden < 30 Stunden > 30 Stunden < 30 Stunden > 30 Stunden < 3 Monate < 3 Monate > 6 Monate > 6 Monate Behandlung sofortige Exploration/Reparatur sofortige Exploration/Reparatur Rückdrehen/Entfernen Implantat Konservativ Entfernen Zahn/Überfüllung Konservativ Exploration Exploration Konservativ Konservativ Konservativ Abb. 6: Abdecken des rekonstruierten Nervens mit einer PRF-Membran und osteosynthetische Re-Fixierung des entnommenen Knochendeckels Foto: Kämmerer

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