Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 17
zm 111, Nr. 17, 1.9.2021, (1606) ein Sterilpflasterverband. Postopera- tiv wurde der Patient aufgrund des SHT für 48 Stunden stationär über- wacht, darüber hinaus erfolgten lokale Kälteanwendungen und ab- schwellende Maßnahmen. DISKUSSION Die Behandlung der erlittenen Ver- letzungen ist im vorliegenden Fall weitestgehend unabhängig vom ge- schilderten Wildtierangriff, da die operativ zu versorgenden Verletzun- gen erst durch das Sturzereignis entstanden sind. Vor der definitiven Versorgung der Riss-Quetsch-Wunde wurde zunächst eine Frakturdiagnos- tik durchgeführt [Hausamen et al., 2012]. Aufgrund der geringen Aus- sagekraft zweidimensionaler Bild- gebungen empfiehlt sich zur Beurtei- lung des knöchernen Mittelgesichts und des Nasenskeletts eine drei- dimensionale Bildgebung [Tanrikulu und Erol, 2001]. Nach sorgfältiger In- spektion erfolgte die Desinfektion der Haut und der Schleimhaut mit einem Antiseptikum noch vor der Anästhe- sie der zu versorgenden Bereiche [Machtens, 1985]. Auf ein Debride- ment und eine Wundausschneidung wurde verzichtet. Diese sind – wenn überhaupt – im Gesichtsbereich nur sehr zurückhaltend durchzuführen [Hausamen et al., 2012]. Die Entfer- nung des Nahtmaterials erfolgte im Verlauf abhängig von der Wundhei- lung und der Verletzungslokalisation. Durch den Sturz war es zu einem SHT gekommen. Der vollkommen orientierte Patient wurde nach der Glasgow Coma Scale (GCS) mit einem Score von 15/15 bewertet [Teasdale und Jennett, 1974]. Es wurde daher die Diagnose eines leichten SHT (ver- altet: SHT ersten Grades) gestellt. In den vergangenen Jahren wurde die Indikation für eine Bildgebung auch bei leichtem SHT immer breiter ge- stellt. Insbesondere das Alter des hier betrachteten Patienten wäre nach Annahme einiger Autoren bereits ausreichend für die Durchführung einer CT [Ono et al., 2007]. Bei Aus- bleiben einer neurologischen Symp- tomatik wurde auf eine Bildgebung des Hirnschädels jedoch zunächst verzichtet und stattdessen eine eng- maschige klinische Überwachung durchgeführt. Die Indikationen für postexpositio- nelle Aktiv- und Passivimpfungen gegen Tetanus richten sich nach der Art und der Verschmutzung der Wunde sowie dem Impfstatus des Verletzten [RKI, 2018]. Wegen der nicht als „sauber und geringfügig“ [RKI, 2018] zu bezeichnenden Wunde war trotz vollständiger, jedoch mehr als fünf Jahre zurückliegender Impfung gegen Tetanus eine postexpositionelle Auffrischung indiziert. NACHBEMERKUNG Angriffe durch Haustiere stellen eine gelegentlich vorkommende Verlet- zungsätiologie dar [Stier et al., 2020]. Wildtierangriffe erscheinen jedoch ausgesprochen selten. Vorkommnisse mit Rehwild sind in der wissenschaft- lichen Literatur für Europa nach Kenntnis der Autoren bisher nicht dokumentiert. Berichte hierzu finden sich jedoch immer wieder in Tages- zeitungen und der Jagdliteratur. Auf- fällig ist, dass überaus häufig ausge- wilderte Handaufzuchten beteiligt sind. Die frühe Gewöhnung an den Menschen scheint zu Fehlprägungen bei den Tieren zu führen, die Angriffe motivieren können. Rehböcke ver- halten sich im Sommer stark territo- rial – ein Angriff auf vermeintliche Artgenossen entspricht daher dem zu erwartenden Verhaltensmuster. Das angreifende Wildtier war in der lokalen Jägerschaft bereits bekannt. Es handelte sich um einen im vor- herigen Winter als Kitz geretteten und mit der Hand aufgezogenen Reh- bock (Capreolus capreolus) namens „Eddie“. Nach der Aufzucht war er, da er sich nicht auswildern ließ, in einem nahe gelegenen Wild- tierpark untergebracht worden und dort wenige Tage vor dem Vorfall auf ungeklärte Art und Weise ausge- brochen. Nach dem hier beschriebe- nen Angriff konnte er eingefangen und zurück in den Wildtierpark ver- bracht werden. ! FAZIT FÜR DIE PRAXIS ! Wildtierangriffe stellen in Deutschland eine Rarität dar, kommen jedoch vor. ! Abhängig vom Unfallmechanismus und der Allgemeinanamnese kann eine stationäre Überwachung und eine erweiterte Bildgebung notfallmäßig angezeigt sein. ! Je nach der Verletzungsschwere, dem Verschmutzungsgrad der Wunde und dem Impfstatus des Patienten ist eine aktive und gegebenenfalls zusätzlich eine passive Immunisierung gegen Tetanus indiziert. ! Vor einem Wundverschluss nach Sturz ist eine Suche nach etwaig eingesprengten Fremdkörpern durchzuführen. PD DR. MED. DR. MED. DENT. PHILIPP JEHN Oberarzt Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg Str. 1, 30625 Hannover Foto: Viola Pawlaczyk UNIV.-PROF. DR. MED. DR. MED. DENT. NILS-CLAUDIUS GELLRICH Chefarzt Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg Str. 1, 30625 Hannover Foto: Viola Pawlaczyk 80 | ZAHNMEDIZIN
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