Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 19

zm 111, Nr. 19, 1.10.2021, (1780) Die Bundestagswahl ist gelaufen. Sie, liebe Leserinnen und Leser, kennen inzwischen das Ergebnis, das zum Redaktionsschluss noch nicht vorlag. Doch ganz gleich, wer sich jetzt mit Sondierungsgesprächen in Richtung Koalitionsverhandlungen begibt: Die Finanzierung unseres Gesundheitssystems wird ein gewichtiger Teil der Verhandlungs- masse sein. Nicht zuletzt deshalb, weil bei drei Parteien die Einführung einer „Bürgerversicherung“ – in unterschiedlichen Ausprägungen – in ihren Wahlprogrammen steht. Der Systemwettbewerb zwischen GKV und PKV – und damit der Beitrag der Privatpatienten zur medizinischen Infrastruktur – wird von SPD, Grünen und der LINKEN in Zweifel gezogen. Mal wird vom Weg in Richtung eines „integrierten Systems“ gesprochen, mal ist vom Einbezug der Privat- versicherten in den Gesundheits- fonds (Grünen) die Rede. Immer läuft es dabei auf ein Ende des deut- schen Zwei-Säulen-Modells aus GKV und PKV zugunsten einer Einheits- versicherung hinaus. Damit ist klar, dass an den Koalitions- verhandlungen mindestens eine Partei beteiligt sein dürfte, die den Wechsel hin zu einer Einheits- versicherung propagiert – zumindest dann, wenn die Wahlprognosen annähernd realistisch waren. Wie groß die Umsetzungschancen sein werden, hängt dann natürlich von den realen Kräfteverhältnissen ab. Erschreckend ist übrigens, dass offenbar auch die Anhänger der bürgerlichen Parteien eine Einheits- versicherung inzwischen mehrheit- lich befürworten würden – diesen Schluss jedenfalls legt eine Umfrage von Infratest dimap von Anfang September nahe. Offenbar wurde der Glaube, dass mit einer „Bürger- versicherung“ alles besser wird, durch stetige Wiederholung selbst dort erfolgreich genährt. Was tatsächlich durch die Einfüh- rung einer Einheitsversicherung droht, hat kürzlich der Verband der Privatärztlichen Verrechnungsstellen (PVS) zusammengefasst. Diese Studie schlüsselt die zu erwartenden Ein- kommensverluste nach ambulant tätigen Facharztgruppen (ohne Zahn- ärzteschaft) auf: Demnach lösen rund 10,5 Prozent Privatversicherte 22,5 Prozent der ambulant ausgelösten Jahresumsätze im Gesundheitssystem aus. Im ärztlichen Bereich liegt die Spanne je nach Facharztgruppe weit auseinander. „Die Bürgerversicherung stellt in Deutschland allein im am- bulanten Bereich ärztliche Honorare in Höhe von 6,43 Milliarden Euro jährlich in Frage“, heißt es weiter. Auf der Kostenseite stehen vor allem fixe Kosten wie Miete und technische Infrastruktur, die auch bei einer Einheitsversicherung weiter anfallen, variable Kosten fallen hin- gegen primär beim Personal an. Laut der Studie wenden Praxisinhaber rund 27,5 Prozent ihrer Einnahmen für das Personal auf. Bei den zu er- wartenden Umsatzeinbußen wären die Praxisinhaberinnen und -inhaber gezwungen, hier zuerst anzusetzen. Die Studie erwartet deshalb einen Verlust von rund 34.800 Vollzeit- stellen im ärztlichen Bereich. Erste Schätzungen gehen für den Dentalmarkt von circa 1,68 Milliar- den Euro Wertschöpfungseinbußen aus. Diese würden sich in einem Verlust von bis zu 58.000 Arbeits- plätzen in den Zahnarztpraxen (zum Beispiel Zahnmedizinische Fachangestellte), im Zahntechniker- handwerk sowie in der Dental- industrie niederschlagen. Diese Berechnungen der BZÄK zeigen ein- drucksvoll, dass Veränderungen im Versicherungssystem zu allgemeinen Wohlfahrtsverlusten führen können und so sozialpolitischen Sprengstoff enthalten. Festhalten muss man an dieser Stelle zudem, dass uns das duale System nicht nur erfolgreich durch die Corona-Pandemie, sondern auch bereits durch die Finanz- und Wirtschaftskrise 2007/2008 gebracht hat: Zu keiner Zeit war die medizinische Versorgung der Patientinnen und Patienten gefähr- det! Ein Zustand, um den uns nicht wenige Länder beneiden. Das System hat sich – mit all den bekannten Reformnotwendigkeiten – erstaun- lich krisenfest gezeigt. Es sind starke Zweifel angebracht, ob diese Zuverlässigkeit in einem Einheits- system sicher zu gewährleisten wäre. Wenn eine künftige Regierung nun also den Weg einer „Bürger- versicherung“ ernsthaft verfolgen sollte, muss sie sich auch dieser Konsequenzen bewusst sein und sie offen kommunizieren. Denn das gehört zur bitteren Wahrheit dazu. Prof. Dr. Christoph Benz Präsident der Bundeszahnärztekammer Foto: BZÄK/axentis.de Mut zur bitteren Wahrheit 06 | LEITARTIKEL

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