Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 111, Nr. 20, 16.10.2021, (1950) E in historisches Gemälde des Hofmalers Anton von Werner (1843–1915), das heute in der Alten Nationalgalerie in Berlin hängt, verdeutlicht die Stellung Virchows in der kaiserlichen Gesellschaft sehr eindrücklich: Es zeigt den damaligen Kronprinzen Friedrich Wilhelm (1831–1888) – den späteren Kaiser Friedrich III. – beim Hofball 1878 im Weißen Saal des Berliner Schlosses im Gespräch mit dem Reichstags- präsidenten und Berliner Oberbürger- meister Max von Forckenbeck (1821– 1892). Im roten Talar auch abgebil- det: der Dekan der medizinischen Fakultät der Friedrich Wilhelms Uni- versität, Rudolf Virchow. Die Gruppe um den liberalen Kronprinzen ge- hörte zu einer kleinen Minderheit aufgeschlossener und fortschrittlicher Größen des Kaiserreichs, die sich gegen eine große Mehrheit nationa- listischer Konservativer stellte. In die- sem Spannungsfeld stand Virchows politisches Engagement, das er als Berliner Stadtverordneter begann und später als Abgeordneter im Preußischen Abgeordnetenhaus und Reichstag fortsetzte. Wie sieht der biografische Hinter- grund dieses außergewöhnlichen Me- diziners und Politikers aus? Geboren wurde Rudolf Ludwig Carl Virchow als Sohn des Kaufmanns und Stadt- kämmerers Carl Christian Siegfried Virchow und seiner Frau Johanna, geborene Hesse, im pommerischen Schivelbein. Nach seiner Schulzeit in Köslin, einer Stadt nahe der Ostsee- küste in Pommern, ging er nach Ber- lin an die 1795 gegründete Pépinière, ein Institut zur Aus- und Weiter- bildung von Militärärzten des König- reichs Preußen. Seit 1818 trug die Lehranstalt den Namen „Medizinisch- chirurgisches Friedrich-Wilhelms- Institut“. Seine Studienzeit von 1839 bis 1843 schloss er mit der Promotion „De rheumate praesertim comeae“ bei dem Mediziner und Naturforscher Johannes Müller (1801–1858) ab. Die erste Anstellung führte Virchow 1844 zu dem Anatom und Pathologen Robert Froriep (1804–1861), der seit 1833 Prosektor der Charité war. Vir- chow war von 1846 bis 1849 kom- missarischer Leiter der Prosektur und des „Pathologischen-anatomischen Cabinets“ der Charité. Parallel dazu beendete er seine Habilitation „De ossificatione pathologica“ und lehrte als Dozent für Pathologie an der Charité. 1849 bis 1856 war er Ordinarius für pathologische Anatomie an der Uni- versität Würzburg, wo er die Basis seiner Zellularpathologie erarbeitete. Der Weggang von Berlin stand im Zusammenhang mit der politischen Situation in Preußen: Die 1848er- Revolution war endgültig gescheitert und Virchow geriet mit seinem Enga- gement für demokratische Reformen in Konfrontation zu den Regieren- den, die einen Weg der Restauration einschlugen. Privat bescherte ihm die Zeit in Franken ein glückliches Ereignis: 1850 heiratete Virchow Rose Mayer (1832–1913), zusammen be- kamen sie sechs Kinder. 1856 zog Virchow zurück nach Berlin und wurde ordentlicher Professor des neu eingerichteten Lehrstuhls für Pathologische Anatomie und Allge- meine Pathologie an der Friedrich- Wilhelms-Universität, heute Hum- boldt-Universität. Mehrfach ist er De- kan der Medizinischen Fakultät an der Charité und von 1892 bis 1893 Rektor der Berliner Universität. Von herausragender Bedeutung war seine Vorlesung „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologische und pathologische Gewebelehre“. „WAS ICH MIT GUTEM GEWISSEN SAGEN KANN“ Mit der Zellularpathologie lassen sich alle Krankheiten des menschlichen Körpers auf krankhaft veränderte Körperzellen zurückführen. Damit zog er einen endgültigen Schluss- strich unter die Jahrhunderte alte Humoralpathologie, die Vier-Säfte- Lehre. In seiner Einleitung zur Vor- lesung schrieb Virchow 1858: „Hier kann ich wohl mit gutem Gewissen sagen, dass ich eben so wenig die Tendenz habe, den Galen oder den Paracelsus zu rehabilitiren, als ich mich davor scheue, das, was in ihren Anschauungen und Erfahrungen wahr ist, offen anzuerkennen. In der That finde ich nicht bloss, dass im Alterthum und im Mittelalter die Sinne der Aerzte nicht überall durch überlieferte Vorurtheile gefesselt wur- den, sondern noch mehr, dass der ge- sunde Menschenverstand im Volke an gewissen Wahrheiten festgehalten hat, trotzdem dass die gelehrte Kritik sie für überwunden erklärt. Was sollte mich abhalten, zu gestehen, dass die gelehrte Kritik nicht immer wahr, das System nicht immer Natur gewesen ist, dass die falsche Deutung nicht die Richtigkeit der Beobachtung be- einträchtigt? Warum sollte ich nicht gute Ausdrücke erhalten oder wieder- herstellen, trotzdem dass man falsche Vorstellungen daran geknüpft hat?“ Besonders viel Beachtung fanden seine 30 Vorlesungen über „Die krankhaften Geschwülste“, die er an der Berliner Universität im Winter- semester 1862/63 hielt. Über die Osteome der Kieferknochen sagte er: „Die Zahn – Geschwülste sind unter sich wiederum verschieden. Zunächst können sie an einem regelmässig ent- wickelten und gelagerten oder an einem unregelmässig entwickelten und gelagerten Zahn vorkommen. ZUM 200. GEBURTSTAG VON RUDOLF VIRCHOW Der Pionier der Pathologie Kay Lutze Rudolf Virchow war nicht nur ein bedeutender Mediziner und Pathologe, er ging auf Forschungsreisen, war eine der Galionsfiguren des liberalen Preußen und des jungen Deutschen Kaiserreichs und kämpfte für die Verbesserung der hygienischen Verhältnisse der einfachen Bevölkerung. Am 13. Oktober 2021 wäre er 200 Jahre alt geworden. 56 | GESELLSCHAFT

RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=