Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 20

zm 111, Nr. 20, 16.10.2021, (1952) Dass Otto von Bismarck, damals noch preußischer Ministerpräsident, Virchow 1865 nach einer Budget- debatte im Preußischen Landtag zum Duell herausforderte, zeigt, auf welcher Seite dieser als Politiker stand. Virchow soll ihm geantwortet haben, mit Waffen könne man keine politischen Konflikte lösen. Der junge Virchow wurde auf der Seite der Demokraten und Reformer in der 1848er-Revolution aktiv und war von 1859 bis 1902 Mitglied der Berliner Stadtverordnetenversamm- lung, wo er sich für der Bau von Krankenhäusern einsetzte. Mit dem Historiker Theodor Mommsen zählt er zu den Gründern der Deutschen Fortschrittspartei. Seit 1862 saß Virchow auch im Preußischen Ab- geordnetenhaus. Im Reichstag vertrat er von 1880 bis 1893 die Fortschritts- partei. Virchow stellte sich im Berliner Anti- semitismusstreit auf die Seite der liberalen Kräfte um Mommsen. Der Streit wurde losgetreten von dem erz- konservativen und antisemitischen Historiker und Reichstagsabgeordne- ten Heinrich von Treitschke. Zur Gruppe der Antisemiten gehörte auch der Hofprediger Adolf Stoecker. Gegen die Ausgrenzung von Juden, besonders von hohen Staatsämtern, und die Verhinderung einer zu hohen Einwanderung jüdischer Menschen, wandte sich eine Erklärung von 1880, die auch Virchow unterschrieb. Diese „Offizielle Erklärung gegen Antisemitismus“ war ein Plädoyer gegen Rassismus und Fanatismus und für die Gleichheit aller Deutschen, ob Juden oder Christen. Die Ausgren- zung der Juden hielt Virchow für Propaganda. MIT SCHLIEMANN REISTE ER NACH TROJA UND ÄGYPTEN Anfang der 1880er-Jahre unterzeich- nete Virchow mehrfach Aufrufe, um Mittel zu sammeln für durch Pogro- me Not leidende russische Juden. Zu den Gegnern des Antisemitismus ge- hörten übrigens auch Friedrich III. und seine Frau Kaiserin Victoria (1840–1901), Tochter von Queen Victoria. Der damalige Kronprinz schämte sich dafür, dass so etwas im Reich und in Preußen möglich war. Sein Sohn Wilhelm II. und sein Enkel Friedrich Wilhelm verhielten sich in späterer Zeit dagegen ganz anders. Nicht verschwiegen werden soll, dass Virchow mit seiner Kollektion von menschlichen Schädeln und Knochen (als Kind seiner Zeit) aus heutiger Sicht kritischer zu beurteilen ist, vor allem weil diese zu ethno- logisch-anthropologischen Zwecken gesammelt wurden. Aus aller Welt be- kam Virchow menschliche Skelette und Schädel zugeschickt. Es wurden Messmethoden erdacht, um die ein- zelnen Merkmale klassifizieren zu können, in der damals verbreiteten Überzeugung so die Menschheit in „entwickelte“ und „weniger ent- wickelte“ Rassen aufzuteilen. Bei Völkerschauen wurden indigene Menschen, teilweise in Zoos, zur Schau gestellt und untersucht. Dies hat auch Virchow getan. Die private Präparaten-Sammlung von Virchow wurde 1899 zum Grundstock der über 20.000 Exponate des Pathologischen Museums der Charité, das seit 1998 Berliner Medi- zinhistorisches Museum heißt. Be- reits 1869 wurde Virchow Vorstands- vorsitzender der neu gegründeten Deutschen Gesellschaft für Anthro- pologie, Ethnologie und Urgeschichte. Von 1886 bis 1888 war er an der Gründung des Ethnologischen Mu- seums und des Völkerkundemuseums beteiligt. Mit Heinrich Schliemann war Virchow 1879 in Troja und 1888 in Ägypten. Virchows politische Tätigkeit ist un- trennbar mit seinem sozialen Engage- ment für breite Bevölkerungsschich- ten verbunden. Aus der 1848er-Revo- lution stammt folgendes Zitat: „Die Ärzte sind die natürlichen Anwälte der Armen, und die soziale Frage fällt zu einem erheblichen Teil in ihre Jurisdiktion.“ Dies schrieb Virchow in der eigenen Zeitschrift „Die Medi- cinische Reform“, die er für kurze Zeit mit dem Kollegen Rudolph Leubuscher (1821–1861) herausgab. Ebenfalls in der Revolutionszeit hatte er für die preußische Regierung die Typhusepidemie in Oberschlesien er- forscht und auf die unabdingbare Notwendigkeit von Demokratie zur Verbesserung der medizinischen und allgemeinen Lebensverhältnisse hin- gewiesen. Auch während seiner Würzburger Zeit kümmerte sich Virchow um die notleidende Bevölkerung und deckte Missstände auf. In seinem Bericht über die Not im Spessart befasste er sich mit den sozialen Ursachen der gesundheitlichen Probleme der ein- fachen Menschen. Darin schreibt er: „Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garantien für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes.“ EIN KÄMPER FÜR HYGIENE UND DEMOKRATIE Bahnbrechend war sein Kampf für eine Verbesserung der Hygienesitua- tion in Berlin. Vor der Fertigstellung der Kanalisation war die hygienische Situation in der preußisch-deutschen Hauptstadt katastrophal. Schmutz- wasser und Abfälle gelangten aus den Häusern, Höfen und Fabriken in zum Teil offene Rinnsteine, die dann in die Spree oder in Kanäle münde- ten. Zusammen mit dem Berliner Baurat James Hobrecht (1825–1902) setzt Virchow die Pläne für eine zen- trale Wasserversorgung und -entsor- gung als Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses durch. Im Jahr 1871 legte Hobrecht den Plan für eine moderne Kanalisation vor, mit dessen Umsetzung 1873 begonnen wurde. Von 1873 bis zu seinem Tod am 5. September 1902 war Virchow Mit- glied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. 1899 wurde ihm die Helmholtz-Medaille verliehen, 1901 wurde er Mitglied der Friedensklasse des Ordens „Pour le mérite“ für Wissenschaft und Künste und erhielt eine Marmorbüste des Bildhauers Hans Arnold im Pathologischen Museum. Viele Stra- ßen tragen heute seinen Namen und das berühmte Krankenhaus im Berliner Wedding ist nach ihm be- nannt. Begraben liegt Virchow auf dem alten St. Matthäus-Kirchhof in Schöneberg. \ KAY LUTZE Historiker, M.A. 58 | GESELLSCHAFT

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