Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21

zm 111, Nr. 21, 1.11.2021, (2046) DIE ENDODONTOLOGIE AUS PHYLOGENETISCHER SICHT Wir sind alle Kinder des Lungenfischs Peter Gängler, Tomas Lang Vor rund 400 Millionen Jahren entwickelte vermutlich der frühe Lungenfisch das evolutionsbiologisch umfangreichste Genom aller bekannten Lebewesen. Kürzlich klärte ein internationales Team aus Biologen die Bedeutung des Riesen-Genoms für den Landgang der Wirbeltiere: Alle dem Lungenfisch nachfolgenden Lebewesen, darunter auch der Mensch, bedienten sich für die Ausstattung ihrer Dentition aus dem Fundus des Urzeitgenoms. Das hat bis heute therapeutische Konsequenzen – wie die Evolutionsbiologie des Endodonts zeigt. F ast alle Varianten der Zahn- entwicklung waren im Genom der frühen Lungenfische ange- legt und führten zu den vielfältigsten Formen der Zähne, der Resorption von Zahnplatten und der lebens- langen Neubildung von Ersatzzähnen sowie deren hypoplastischen Ent- wicklungsdefekten oder kariösen Lä- sionen – 400 bis 200 Millionen Jahre bevor Wirbeltiere das Land eroberten. Die Amphibien begnügten sich mit einfacheren Dentitionen, auch die Reptilien und erst recht die zahn- losen Vögel mit schlafenden Zahn- bildungsgenen. Und mit den Säuge- tieren kam im Lauf der Evolution eine größere Vielfalt von Dentitionen. Aber niemals wieder wurde der For- menreichtum der Zähne des Lungen- fischs erreicht. VON DER ENDODONTOLOGIE ZUR ENDODONTIE Der deutsch-amerikanische Biologe Ernst Mayr hatte anlässlich seines 100. Geburtstags 2004 zutreffend das Einzigartige der Biologie („What makes biology unique“) herausgeho- ben: Sie sei mehr als die Summe ihrer stofflichen Physik und Chemie. Die Dynamiken biologischer Entitäten sind nicht allein mit den bekannten Naturgesetzen dieser Disziplinen zu erklären, sondern enthalten darüber hinaus eigene Antriebskräfte. Und das trifft ganz besonders auf die Entwicklungsbiologie zu. Deshalb ist auch die Endodontologie eine komplexe Wissenschaftsauffassung der entwicklungsbiologischen, bio- physikalischen und biochemischen Grundlagen von Struktur und Funk- tion ektomesenchymaler und mesen- chymaler Gewebe der Zähne, die neben dem Schmelz den absoluten Hauptteil der Zahnsubstanz aus- machen. Konsequenterweise ist dann die klinische Endodontie mit Dia- gnostik und Therapie nur so gut und sicher, wie die Endodontologie ein- deutige und belastbare wissenschaft- liche Fakten zur Verfügung stellt. WARUM HAT DER AUSTRALISCHE LUNGENFISCH EIN 14-MAL GRÖßERES GENOM ALS WIR? Der Neoceratodus forsteri wurde 1870 vom deutsch-australischen Zoologen Johann Ludwig Gerard Krefft im Bay District von Queensland, Australien, entdeckt und irrtümlicherweise, je- doch naheliegend, als Amphibium bezeichnet [Kemp, 1977]. Anderthalb Jahrhunderte später klärte eine inter- Abb. 1: Modell der Wirbeltierevolution aus dem Wasser auf das Land: Ausgehend von Knorpelfischen wie Seekatzen zu den Knochenfischen Knochenhecht und Zebrafisch ist der Quastenflosser Latimeria eine Übergangsform und erst nach dem Lungenfisch beginnt die Landnahme durch Amphibien, Reptilien, Vögel und den Homo sapiens. Quelle: Meyer A. et al., 2021 ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion ange- fordert werden. 32 | ZAHNMEDIZIN

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