Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 21

zm 111, Nr. 21, 1.11.2021, (2103) Agranulozytose und Munderkran- kungen publizierte er etwa zu den- talen Inlays beziehungsweise Doppel- inlays [Benjamin, 1948], zu zivilisato- rischen Einflüssen auf die Malokklu- sion [Benjamin, 1949] oder zur Zahn- gesundheit in der Region Kashmir [Benjamin, 1946]. Benjamin erlangte in seiner Laufbahn mit dem Dr. med. dent., dem PhD und dem Master of Science drei akademische Würden und engagierte sich in einer Vielzahl von (Fach-) Organisationen, so – in seiner Zeit in Indien – in der „Jewish Relief Associa- tion Bombay“ und der „Kashmir Medical Association“ und – in der Wahlheimat USA – in der „American Association for the Advancement of Science“, der „American Physiolo- gical Society“ und der „Aerospace Medical Association“ [IBDCEE, 1983; Norrman/Gross, 2021]. AUFFÄLLIGE PARALLELEN ZUM LEBEN VON KNEUCKER So einzigartig Benjamins Vita auch anmutet, so weist sie doch auffällige Parallelen zu derjenigen des Wiener Zahnarztes Alfred Walter Kneucker jun. (1904–1960) auf [Kneucker, 1988/ 2004; Groß, 2021b]: Wie Benjamin war auch Kneucker jüdischer Abstam- mung, und wie Benjamin floh auch er – nach der Annexion Österreichs durch das „Dritte Reich“ (1938) – vor den Nationalsozialisten. Wie Benja- min entschied er sich zur Emigration nach Asien – allerdings nach Shang- hai. Auch Kneuckers Vater wurde deportiert – er fand 1942 in Modli- borzyce den Tod. Kneucker ging ebenfalls in Asien mit einer gebürti- gen Berlinerin – Herta Ada Ida – eine Ehe ein, und auch bei ihm blieb es nicht beim erlernten Beruf des Zahn- arztes. Er wandte sich vielmehr der Urologie und der Literatur zu, und genau wie Benjamin emigrierte auch Kneucker nach Ende des Zweiten Weltkriegs in die USA, um dort eine nicht minder beeindruckende Karriere zu starten. Doch im Detail offenbaren sich durch- aus Unterschiede. So hatte der Berufs- wechsel bei Kneucker andere Hinter- gründe als bei Benjamin: Kneucker war vor allem auf Wunsch seines Vaters Alfred Kneucker sen. (1879– 1942) Zahnarzt geworden. Kneucker sen. führte selbst eine zahnärztliche Praxis in Wien und richtete seinem Sohn eine entsprechende Ordination ein. Doch es kam zu Konflikten zwi- schen Vater und Sohn und Kneucker jun. entschloss sich noch vor der Emigration, in die Urologie zu wech- seln. Dies war für ihn mit verhältnis- mäßig geringem Aufwand möglich, weil die österreichischen Zahnärzte in jener Zeit voll approbierte Medizi- ner waren und sich erst postgradual auf die Zahnheilkunde spezialisier- ten. Daher musste er lediglich eine urologische Weiterbildung durchlau- fen. Allerdings befasste sich Kneucker auch später noch mit Themen an der Nahtstelle von Zahnheilkunde und Urologie [Kneucker, 1937]. In den USA konnte Kneucker dann seine wissenschaftlichen Ambitionen aus- leben: Bis 1955 hatte er bereits rund 50 wissenschaftliche Aufsätze und zwei Monografien geschrieben. Er entwickelte an der „Chicago Medical School“ 1956 einen neuen Nierentest, das sogenannte Elektrourogramm (EUG) – in Analogie zum EKG des Herzens [Jessen/Voigt, 1996] – und 1958 ein universelles Endoskop, das die Arbeitsabläufe in der Urologie vereinfachen sollte. Doch damit nicht genug: Kneucker wirkte in den USA als Pianist, Komponist und vor allem als international beachteter Schriftsteller. Er schrieb Filmexposés und spielte nach Aussage seines Sohnes mit dem Gedanken, „den Beruf des Arztes aufzugeben und in Hollywood eine neue Karriere zu beginnen“ [Kneucker, 1988/2004]. Doch dieses Vorhaben konnte er nicht mehr umsetzen: Kneucker ver- starb bereits 1960 im Alter von nur 55 Jahren an einer fulminant verlau- fenen Lungenembolie. Kneuckers Lebenswerk ist quellen- kundlich außergewöhnlich gut do- kumentiert – durch einen posthum erschienenen autobiografischen Ro- man [Kneucker, 1984] und durch einen biografischen Aufsatz seines Sohnes Raoul F. Kneucker [Kneucker, 1988/2004]. Zudem gibt es umfang- reiche Aktenbestände zu Kneuckers Nachlass – darunter auch Skripte und Filmexposés – im „Archiv der American Guild for German Cultural Freedom“ [Archiv der American Guild] und im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek [Literaturarchiv ÖNB]. IN SEINER HEIMAT IST BENJAMIN KAUM BEKANNT Benjamins eindrucksvolle internatio- nale Karriere ist dagegen in seiner deutschen Heimat kaum bekannt ge- worden und bis heute auch wenig er- schlossen – insofern ist dieser Beitrag neben der Darstellung seines außer- gewöhnlichen Werdegangs auch der späte Versuch, ihn dem Vergessen zu entreißen. \ Abb. 3: Antrag auf Einbürgerung Foto: [NARA, 1947] GESELLSCHAFT | 89

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