Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24
zm 111, Nr. 23-24, 1.12.2021, (2306) ZM-SERIE „KARRIEREN IM AUSLAND“ Erwin Neu – ein deutscher Zahnarzt als Galionsfigur jüdischer Emigranten Dominik Groß Der jüdische Zahnarzt Erwin Neu hatte an der Universität Freiburg eine Hochschulkarriere im Fach Zahnheilkunde vor Augen, bevor er vor den Nazis nach Frankreich floh. Dort organisierte er sein Leben von Grund auf neu. Neben einer langjährigen Praxistätigkeit in Paris wurde er zu einem internationalen Sprecher jüdischer Emigranten und politischer Aussöhnungsinitiativen. E rwin Neu wurde am 31. Mai 1908 in Straßburg geboren. Die elsässische Metropole gehörte da- mals zum Deutschen Reich. Er war der Sohn des jüdischen Wäschefabrikan- ten Emil Neu (1874–1944). Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die deutsche Familie aus dem nun französischen Straßburg ausgewiesen und zog ins badische Offenburg. Dort wirkte Emil Neu ab 1922 als Vorsteher der jüdischen Gemeinde [Junker, 2006]. Erwin Neu studierte ab 1926 das Fach Zahnheilkunde – zunächst an der Uni- versität Hamburg bei Guido Fischer (1877–1959) [Groß, 2018a], nachfol- gend in Freiburg. Ende 1929 absol- vierte er die zahnärztliche Prüfung. Anschließend wurde er Assistent in der prothetischen Abteilung der Zahnklinik der Universität Freiburg bei Wilhelm Herrenknecht (1865– 1941) [DZB, 1932/33; Groß, 2021f] und Curt Scheidt (1901–1964). Im Dezember 1930 promovierte Neu ebenda über die „Bedeutung der Nebenhöhlen der Nase als isolierte Infektionsherde mit besonderer Be- rücksichtigung der Diphtherieinfek- tion“ zum Dr. med. dent. Neu stieg bei Herrenknecht rasch zum Ersten Assistenten auf und hielt bereits früh- zeitig eigenständige Vorlesungen ab [UA Freiburg]. 1933 WAR ES MIT SEINER KARRIERE ERSTMAL VORBEI Doch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten kam es zum Karrierebruch: Herrenknecht teilte Neu im April 1933 seine Entlassung mit. Dabei verwies er auf ein Schrei- ben des Kultusministeriums, wonach „alle jüdischen Angestellten ihres Dienstes zu entheben“ seien [Mattes, 2002]. Im Unterschied zu Herrenknecht hatte Hans Rehm (1903–1967) sich als Präsident des Deutschen Zahnheil- kunde-Verbands beim Badischen Mi- nisterium beherzt für einen Verbleib Neus an der Freiburger Klinik ein- gesetzt – allerdings erfolglos [Neu, 1998c]. Neu teilte dieses Schicksal der zunehmenden Entrechtung mit rund 1.200 weiteren Zahnärzten jüdischer Herkunft [Groß, 2018b; Groß et al., 2018; Groß, 2019; Groß/Krischel, 2020]. Er emigrierte im Juni 1933 auf- grund einer Einladung von Freunden über Marseille nach Algerien. Doch weil sein Diplom dort nicht anerkannt wurde, kehrte er zwei Mo- nate später nach Frankreich zurück. Dort heiratete er 1938 Sofie Katz (1912–1968), die er bei Treffen mit anderen Flüchtlingen kennengelernt hatte. Aus der Ehe gingen zwei Kinder hervor – die Tochter Edith Neu (1943–1971) und der spätere Arzt Georges Neu (*1946). Vor dem Zweiten Weltkrieg hielt Neu sich in Cannes, Guebwiller und Paris auf. Nach Kriegsbeginn „meldete er sich mit dem Sonderstatus eines ‚ Saar- flüchtlings‘ als ‚ Freiwilliger für den Krieg‘“ gegen Nazi-Deutschland. Doch bereits 1940 begab er sich frei- willig ins Internierungslager Buffalo [Mattes, 2002]. Dieser Schritt war unausweichlich geworden: Die fran- zösische Regierung hatte zwischen- zeitlich verfügt, dass alle in Frank- reich befindlichen Bürger des Kriegs- gegners Deutschland zu internieren seien – egal „aus welchem Grund sie Deutschland verlassen hatten“ [Mattes, 2002]. Später wurde Neu in ein Lager bei Albi überstellt, wo er bis zu seiner Entlassung im Herbst 1940 als Häftlingszahnarzt tätig war. Anschließend tauchte er in Pau (Süd- frankreich) und später in Paris unter, um den Spähern und Kollaborateu- ren der Nazis zu entgehen. ER WURDE FRANZOSE – UND ZAHNARZT IN PARIS Im Mai 1945 – kurz nach Kriegsende – wurde Neu französischer Staatsbürger und im September 1945 ließ er sich Erwin Neu in den 1930er-Jahren Foto: Privatarchiv Neu 56 | GESELLSCHAFT
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