Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24
zm 111, Nr. 23-24, 1.12.2021, (2309) land. 1979 übernahm er die Präsi- dentschaft der „Association d‘aide aux Israëlites âgés et Malades“ (Verein zur Unterstützung von älteren und kranken Israelis, A.D.I.A.M.). 1980 wurde er Ehrenmitglied (Honorariat) des „Ordre des Chirurgiens Dentistes“ und 1988 folgte das „Große Verdienst- kreuz der Bundesrepublik Deutsch- land“. 1989 wurde er Gründer und Präsident der „Association de Garde à Domicile Communautaire“ (Gemein- schaft Häusliche Pflege, GADCOM) und im selben Jahr Mitbegründer und Vizepräsident der „Association de Famillea Juives d‘enfants handi- capes“ (Verband jüdischer Familien mit behinderten Kindern) [Neu, 1998c; Neu, 2021]. NACH DEM KRIEG HILFT ER ZU VERSÖHNEN Diese Projekte und Ehrungen lassen erkennen, dass sich Neus Engage- ment mit den Jahren wandelte: Ging es bis 1945 vornehmlich darum, jüdische Flüchtlinge vor akuten Be- drohungen zu schützen, so traten in der Nachkriegszeit mehr und mehr soziale Aspekte und die „Erinnerungs- und Versöhnungsarbeit“ [Junker, 2006/07] in den Vordergrund. So ver- suchte er, den Kontakt zu vertriebe- nen Offenburger Juden aufzubauen. Auch regte er an, auf dem jüdischen Friedhof in Offenburg mit einem Stein der im „Dritten Reich“ ausge- löschten jüdischen Gemeinde zu ge- denken. Tatsächlich konnte jenes Symbol 1990, 50 Jahre nach der De- portation, eingeweiht werden. Diese Initiativen brachte Neu 1991/1992 die Bürgermedaille der Stadt Offen- burg ein. Dabei „betonte Oberbürger- meister Wolfgang Bruder Neus Inte- grationskraft und seine Kraft zur Ver- söhnung“ [Möring, 2002]. Aus dem „Club de Solidarité“ heraus entwickelte Neu in den 1980er-Jah- ren zudem mit einigen Mitstreitern den Freundeskreis „Les Amis du Musée du Camp de Gurs“, der das Ziel hatte, in Gurs ein Museum zu diesem traurigen Kapitel des Holo- caust einzurichten. Der damalige Of- fenburger Oberbürgermeister Martin Grüber (Amtszeit: 1975–1989) und der zuständige Kulturamtsleiter sag- ten hierbei ihre Unterstützung zu – dennoch konnte das Museum zu- nächst nicht verwirklicht werden [Möring, 2002]. Eine letzte große Auszeichnung erhielt Neu dann im November 1994: Die Republik Öster- reich verlieh ihm das „Goldene Ehrenzeichen“ und würdigte damit ausdrücklich Neus internationales Engagement im „Club de Solidarité“ [Privatarchiv Neu]. Unbeantwortet blieb bisher die Frage, ob Neu die geschilderte Karriere als internationaler Interessenpolitiker ge- zielt verfolgt hatte oder ob er sich zu diesen Aktivitäten entschloss, weil ihm der Weg zurück an die Hoch- schule verwehrt blieb. Mattes notiert zu dieser Frage: „Die beruflichen Lebenswege vieler Emigranten [...] waren zerstört: Nur wenige konnten ihre in Deutschland erreichte wissen- schaftliche Stellung wieder erlangen oder gar verbessern. [...] Erwin Neu, der zum Zeitpunkt seiner Entlassung Assistent gewesen war, arbeitete über- haupt nicht mehr wissenschaftlich, sondern war praktisch tätig [...] Vor allem die jungen Wissenschaftler konnten während ihrer kurzen uni- versitären Laufbahn selten interna- tionale Beziehungen knüpfen oder Reputation erwerben. So waren sie nach ihrer Vertreibung auf sich allein gestellt“ [Mattes, 2002]. SEINEN KARRIEREWEG BESTIMMTE ER SELBST Dennoch spricht einiges dafür, dass Neus Karriereweg nach 1945 im Wesentlichen selbstbestimmt war: Tatsächlich bot ihm die französische Militärregierung nach Kriegsende im geteilten Deutschland eine Professur an der Universität Freiburg an, die zu diesem Zeitpunkt zur französischen Besatzungszone gehörte. Neu lehnte jedoch ab, da für ihn eine Rückkehr nach Deutschland nicht infrage kam: Er wollte nach eigenen Angaben weder „Nazis“ behandeln noch diese in seinem Kollegenkreis wissen [Neu, 1998c]. Dennoch suchte Neu in der Nachkriegszeit den Austausch mit einzelnen deutschen Professoren, denen er wiederum „zu Einladungen auf internationale zahnärztliche Kongresse“ verhalf. Dabei fielen ihm diese Kontaktaufnahmen durchaus schwer: „[...] diese Rückkehr nach Deutschland war für mich immer eine moralische Beschwernis. Als ich zum ersten Mal nach Offenburg kam [...], bekam ich einen Weinkrampf. Ich konnte es immer noch nicht fas- sen, was in Offenburg meinen Eltern und überhaupt in Deutschland den Juden geschehen war“ [Neu, 1998c]. Am 28. Oktober 1954 stellte Neu einen Wiedergutmachungsantrag an das zuständige Landesamt in Freiburg [UA Freiburg], der sich auch auf seinen universitären Status auswirken sollte: Da Neu nachweisen konnte, dass er aufgrund der Entlassung 1933 nicht habilitieren konnte und so eine aussichtsreiche Hochschullaufbahn aufgeben musste, wurde er 1962 im Rahmen der deutschen Wiedergut- machungspolitik rückwirkend zum „außerordentlichen Professor für Zahnheilkunde der Universität Frei- burg im Ruhestand“ ernannt und ebenda als Dozent geführt. Letztlich erreichte Neu somit beides: eine außergewöhnliche Laufbahn als Fürsprecher jüdischer Emigranten und den Status eines universitären Professors. Er starb hochbetagt im Alter von fast 94 Jahren: Kurz vor seinem Tod war er aufgrund eines Schwächeanfalls in seiner Wahl- heimat Paris stationär aufgenommen worden – just in das Krankenhaus, in dem sein Sohn Georges als Arzt tätig war [Möring, 2002]. \ Erwin Neu 1998 Foto: Privatarchiv Neu GESELLSCHAFT | 59
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=