Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 23-24

zm 111, Nr. 23-24, 1.12.2021, (2331) führen eher zur ossären Destruktion als zu multiplen zystenähnlichen Auftreibungen [Akinbami, 2009]. Bei Erkrankungen des hämatopoe- tischen und des lymphatischen Sys- tems ist zum einen die Histiozytose X (Langerhans-Zell-Granulomatose) zu nennen, die meist im Kindes- oder im Jugendalter auftritt und multi- fokale Osteolysen hervorrufen kann [Kim et al., 2019]. Zum anderen sind Lymphome, insbesondere das solitär auftretende intraossäre Lymphom und das Plasmozytom, zu erwähnen [Wen et al., 1988]. Letzteres wird bei multiplem Auftreten wie im vorlie- genden Fall als Multiples Myelom bezeichnet. Zahlreiche osteolytische, scharf begrenzte Herde unterschied- licher Größe verleihen dem Knochen im Rahmen des Multiplen Myeloms ein schrotkugelartig ausgestanztes Aussehen [Witt et al., 1997]. Die hämatopoetisch aktive Mandibula kann dabei betroffen sein. Das Auf- treten von Veränderungen im Bereich des Unterkiefers als Erstmanifestation eines Multiplen Myeloms ist wie- derum selten [Goetze et al., 2014]. Das Multiple Myelom macht circa zehn Prozent aller hämatologischen Neoplasien und ein Prozent aller Krebserkrankungen weltweit aus. In Deutschland werden jährlich etwa 6.500 Neudiagnosen gestellt. Nach den WHO-Kriterien zählt das Multiple Myelom zu den B-Zell-Lymphomen. Kennzeichnend sind eine Vermeh- rung der monoklonalen Plasmazellen im Knochenmark und eine erhöhte Produktion der kompletten oder in- kompletten monoklonalen Immun- globuline. Das mediane Erkrankungs- alter liegt für Frauen bei 71 Jahren, für Männer bei 74, wobei Männer häufiger erkranken. Die Fünfjahres- überlebensrate liegt für das R-ISS Stadium I bei circa 82 Prozent, bei 62 Prozent für Stadium II und bei 40 Prozent für Stadium III [Palumbo et al., 2015]. Das Multiple Myelom ist ein kom- plexes Krankheitsbild, das – wie im vorliegenden Fall – lange Zeit asymp- tomatisch verlaufen kann. Myelom- patienten berichten meist über un- spezifische Beschwerden, weshalb die Diagnose häufig erst im fortgeschrit- tenen Stadium gestellt wird. Initial werden anhaltende Rücken- und/ oder Knochenschmerzen angegeben. Daneben leiden die Patienten häufig an einer Fatigue-Symptomatik, ver- ursacht durch eine Anämie. Die Diagnose wird durchs Vorhanden- sein der sogenannten CRAB-Kriterien (Hyperkalzämie, Niereninsuffizienz, Anämie und/oder osteolytische Kno- chenläsionen) und dem Nachweis klonaler Plasmazellen im Knochen- mark gesichert [Goldschmidt et al., 2019]. Die Indikation zur Therapie wird anhand der CRAB-Kriterien sowie von radiologischen und serolo- gischen Parametern gestellt. Entschei- dend vor Einleitung der Therapie ist die Prüfung der Transplantations- tauglichkeit des Patienten. In Abhän- gigkeit davon stehen immunmodula- torische Substanzen (Lenalidomid), Proteasomeninhibitoren (Bortezo- mib), Alkylanzien (Cyclophospha- mid, Melphalan) und Antikörper (Da- ratumumab) zur Verfügung [Smith et al., 2006]. Neben der Immun-Chemo- therapie wird bei Nachweis mindes- tens einer Osteolyse eine osteoprotek- tive Therapie mit antiresorptiven Medikamenten (Bisphosphonate beziehungsweise RANKL-Inhibitor) empfohlen [Terpos et al., 2013]. Die zahnärztliche Mitbehandlung ist hierbei relevant. Zum einen muss bei laufender Chemotherapie mit Wund- heilungsstörungen gerechnet werden, so dass oralchirurgische Eingriffe mög- lichst zu vermeiden sind beziehungs- weise eine antibiotische Abschirmung vorzunehmen ist. Zum anderen ist die Prophylaxe einer Antiresorptiva- assoziierten Kiefernekrose von wesent- licher Bedeutung. Diese beinhaltet die Beseitigung sämtlicher entzünd- licher Foki im Bereich der Kiefer vor Beginn der antiresorptiven Therapie. Nach Beginn der antiresorptiven The- rapie sind Eingriffe am Kieferknochen nur unter Einhaltung festgelegter Kautelen vorzunehmen. Eine ent- sprechende Leitlinie existiert (S3-Leit- linie: Antiresorptiva-assoziierte Kiefer- nekrosen, AWMF-Register-Nr. 007–09, letzte Aktualisierung: 12/2018). Bei einer ausgedehnten osteolytischen Destruktion der Mandibula – wie im vorliegenden Fall – sind zahnärztliche Maßnahmen mit hoher Krafteinwir- kung aufgrund der außerordentlichen Frakturgefahr allerdings zu vermeiden. Zahnextraktionen sind absolut scho- nend vorzunehmen und eine prophy- laktische mandibulomaxilläre Ruhig- stellung ist zu erwägen. Schonkost wird dringend angeraten. Auch bei Abformungen ist Vorsicht geboten. Die mögliche Wirbelsäuleninstabilität sollte bei der Patientenlagerung be- achtet werden. Bei Unterkieferfraktu- ren reicht das Therapieregime von konservativen Maßnahmen bis zu Plattenosteosynthesen und Fixateur externe. Inwiefern es unter der kom- binierten Chemotherapie zu einer Re- ossifikation der osteolytischen Herde kommt, ist ungewiss und kann rönt- genologisch kontrolliert werden. \ FAZIT FÜR DIE PRAXIS Osteolytische Läsionen des Unterkiefers, die im Orthopantomogramm zur Darstellung kommen, sind in den meisten Fällen zystischen Ursprungs. In seltenen Fällen können solche Destruktionen auch Ausdruck einer systemischen Grunderkrankung sein. Als solche verursacht das Multiple Myelom multi- fokale, disseminierte Osteolysen des Skeletts. Die Beteiligung der Kieferregion kann zur Erstvorstellung in der Zahnarztpraxis führen. Grundsätzlich sollten ungewöhnliche radio- logische Befunde unter Berücksichtigung der Klinik und der Anamnese bewertet und zeit- nah fachärztlich abgeklärt werden, da dies für die Prognose, beispielsweise bei Vorliegen einer malignen Erkrankung, entscheidend sein kann. DR. MED. DR. MED. DENT. CHRISTIAN ZAHL Universitätsklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Leipziger Str. 44, 39120 Magdeburg Foto: Melitta Schubert, Universitätsklinikum Magdeburg ZAHNMEDIZIN | 81

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