Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02
zm 112, Nr. 01-02, 16.1.2022, (16) DIE PRINZIPIENETHIK Ethische Dilemmata, also Situationen, in denen der Zahnarzt zwischen zwei konkurrierenden, nicht miteinander zu vereinbarenden Handlungsoptionen zu entscheiden oder den Patienten zu beraten hat, lassen sich mit den Instru- menten der Medizinethik lösen. Viele der geläufigen Ethik-Konzeptionen (wie die Tugendethik, die Pflichtenethik, der Konsequentialismus oder die Fürsorge- Ethik) sind jedoch stark theoretisch hinter- legt und aufgrund ihrer Komplexität in der Praxis nur schwer zu handhaben. Eine methodische Möglichkeit von hoher praktischer Relevanz besteht hingegen in der Anwendung der sogenannten Prinzipienethik nach Tom L. Beauchamp und James F. Childress: Hierbei werden vier Prinzipien „mittlerer Reichweite“, die unabhängig von weltanschaulichen oder religiösen Überzeugungen als allgemein gültige ethisch-moralische Eckpunkte angesehen werden können, bewertet und gegeneinander abgewogen. Drei dieser Prinzipien – die Patienten- autonomie, das Nichtschadensgebot (Non-Malefizienz) und das Wohltuns- gebot (Benefizienz) – fokussieren aus- schließlich auf den Patienten, während das vierte Prinzip Gerechtigkeit weiter greift und sich auch auf andere betroffene Personen oder Personengruppen, etwa den (Zahn-)Arzt, die Familie oder die Solidargemeinschaft, bezieht. Für ethische Dilemmata gibt es in den meisten Fällen keine allgemein verbind- liche Lösung, sondern vielfach können differierende Bewertungen und Hand- lungen resultieren. Die Prinzipienethik ermöglicht aufgrund der Gewichtung und Abwägung der einzelnen Faktoren und Argumente subjektive, aber dennoch nachvollziehbare und begründete Ge- samtbeurteilungen und Entscheidungen. Deshalb werden bei klinisch-ethischen Falldiskussionen in den zm immer wenigstens zwei Kommentatoren zu Wort kommen. Oberstarzt Prof. Dr. Ralf Vollmuth tischer Zugehörigkeit, Rasse, sexueller Orientierung, sozialer Stellung oder jeglicher anderer Faktor“ bei der Ver- sorgung ihrer Patienten eine Rolle spielen. Im Einklang mit der Muster- berufsordnung haben sie aber das Recht, wie auch in der Vignette bereits dargestellt, die zahnärztliche Behandlung unter anderem abzu- lehnen, wenn diese ihnen nach pflichtgemäßer Interessenabwägung nicht zugemutet werden kann oder sie der Überzeugung sind, dass das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen ihnen und dem Patienten nicht besteht. Gerade in der derzeitigen Pandemie fällt der Verhinderung der Weiter- verbreitung des Coronavirus eine besondere Bedeutung zu. Laut dem „Gesetz zur Verhütung und Bekämp- fung von Infektionskrankheiten beim Menschen“ müssen die Betreiber von Zahnarztpraxen sicherstellen, dass „die nach dem Stand der medizi- nischen Wissenschaft erforderlichen Maßnahmen getroffen werden, um nosokomiale Infektionen zu ver- hüten und die Weitergabe von Krank- heitserregern [...] zu vermeiden“. Zu- sätzlich finden sich in dem Regelwerk besondere Schutzmaßnahmen zur Verhinderung der Verbreitung von COVID-19, insbesondere die Test- pflicht für Arbeitgeber, Beschäftigte und Besucher in Einrichtungen und Unternehmen – „behandelte“ Person gelten dabei ausdrücklich nicht als Besucher. Der juristische Rahmen scheint damit eindeutig, gleichwohl bleiben damit einhergehende mögliche ethische Di- lemmasituationen zunächst ungelöst. Die Einforderung eines Tests gegen den Willen von Patienten verstößt zu- nächst gegen deren Recht auf Selbst- bestimmung. Ärztliche Therapien sowie diagnostische Maßnahmen ohne Einverständnis der Betroffenen stellen Eingriffe in die Patienten- autonomie dar und sind grundsätz- lich abzulehnen. Im Fall einer ver- pflichtenden Testung mittels Nasen- abstrich wird zusätzlich prinzipiell das Nichtschadensgebot (Non-Malefi- zienz) gegenüber dem zu Testenden berührt, das jedoch aufgrund der kaum vorhandenen körperlichen Aus- wirkungen einer derartigen Unter- suchung zu vernachlässigen ist. Das Wohltunsgebot (Benefizienz) indes- sen wird bei dem Patienten auf jeden Fall berührt, da er den Abstrich in der Regel als unangenehm und mög- licherweise auch als psychologisch übergriffig empfindet. Allerdings muss bei der Gewichtung dieser Prinzipien noch ein weiterer Aspekt, die Gerechtigkeit, mitbe- trachtet werden. Praxisinhaber und Praxisinhaberinnen dürfen alle anderen sich in den Räumen der zahnärztlichen Behandlungseinrich- tung aufhaltenden Patienten keinen unnötigen Gefahren oder Schädi- gungen aussetzen. Hilfesuchende Menschen müssen darauf vertrauen und sich darauf verlassen können, dass ihre Gesundheit während medizinischer Behandlungen nicht zusätzlich beeinträchtigt wird. Auch wenn das konsequente Tragen von Masken und die Einhaltung des not- wendigen Abstands ein Infektions- risiko nachweislich reduzieren, kann es nicht ausgeschlossen werden. Ein im zeitlichen Zusammenhang durch- geführter Schnelltest bei allen nicht- geimpften Patienten oder die Vorlage eines aktuellen Testergebnisses er- höhen die Sicherheit aller Patienten somit deutlich. Betrachtet man die gesundheitlichen und sozialen Aus- wirkungen einer Coronainfektion für die Betroffenen oder die sich daraus ergebenden Isolationsmaßnahmen für deren Angehörige sowie nicht unmittelbar Beteiligte (wodurch das Gerechtigkeitsgebot ebenfalls berührt wird), erscheint die Einforderung eines Tests oder der Nachweis eines negativen Ergebnisses nicht unzumutbar. Auch wenn diese nicht zu den vier ethischen Grundprinzipien nach Beauchamp und Childress zählt, sei an dieser Stelle noch die Fürsorge- pflicht erwähnt. Arbeitgeber (und damit auch die Betreiber von Zahn- arztpraxen) müssen alle notwendigen Maßnahmen ergreifen, ihre Mitarbei- ter – im vorliegenden Fall das Be- handlungsteam – vor allen vermeid- baren beruflichen Gefährdungen zu schützen. 18 | POLITIK
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