Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02
In einer notwendigen Abwägung der einzelnen Prinzipien wiegt die Gerechtigkeit gegenüber den Patien- ten und Mitarbeitern deutlich mehr als der Eingriff in die Patienten- autonomie durch einen „erzwunge- nen“ Test, die Benefizienz und das Nichtschadensprinzip werden kaum beziehungsweise gar nicht berührt. Auch wenn die Patientenautonomie zu den höchsten Gütern gehört, fin- det sie ihre Grenzen, wenn andere Menschen durch das Beharren auf der eigenen Position gefährdet wer- den. Aus meiner Sicht ist damit aus ethischen Überlegungen die Grund- lage gegeben und es erscheint sogar geboten, einen Coronatest von den Patienten einzufordern. Bei Bedarf kann dieser unmittelbar in den Pra- xisräumen durchgeführt werden. Sollten Patienten nicht bereit sein, eine aktuelle Infektionsfreiheit im Hinblick auf das Coronavirus gegen- über dem Praxisteam und damit in einem durch die ärztliche Schweige- pflicht zugesicherten geschützten Raum nachzuweisen, ist die Basis für ein Vertrauensverhältnis als wichtige Grundlage für alle medizinischen Behandlungsmaßnahmen nicht ge- geben. Auch ist in einem derart gelagerten Fall abzuwägen, ob einem Zahnarzt die Behandlung dann über- haupt zugemutet werden kann. Wie der Patient seinem Behandlungs- team gegenüber darauf vertrauen muss, im Rahmen von Therapiemaß- nahmen nicht zusätzlich geschädigt zu werden, so müssen sich im Gegen- zug alle Mitglieder des Behandlungs- teams sicher sein, dass ihnen bei der Durchführung von medizinischen Hilfeleistungen vonseiten des Patien- ten keine Gesundheitsgefährdung droht. Somit sind sowohl Hilfe- suchende als auch das zahnmedizi- nische Personal in einer gewissen Bringschuld, um ein vertrauensvolles Miteinander zu gewährleisten. Wenn Patienten dazu nicht bereit sind, wäre die Ablehnung aller elektiven zahn- ärztlichen Therapien mit Verweis auf die bereits erwähnte Musterberufs- ordnung ein konsequenter Schritt. Sollte es sich um einen Schmerz- patienten handeln, ist die Verweige- rung einer Notbehandlung selbst- redend nicht zulässig. Diese müsste dann unter Vollschutz erfolgen, da eine mögliche Infektion nicht sicher ausgeschlossen werden kann. \ KOMMENTAR 2 Eine Zahnärztin ist nicht nur einem einzelnen Patienten verpflichtet Wir alle haben in den vergangenen Monaten festgestellt, dass sich der Verlauf der Pandemie maßgeblich auf die öffentliche Meinung zu den G-Regeln und den Umgang mit Un- geimpften auswirkt: Waren etwa im Sommer 2021 nur wenige Bundes- bürger der Ansicht, dass eine allge- meine Impfpflicht geboten sei, so zeigt sich mittlerweile – unter dem Eindruck fulminant wachsender Infektionszahlen – eine deutliche Meinungsumkehr. Die Mehrheit der Deutschen spricht nun einer ver- pflichtenden Impfung das Wort, und auch einige ursprünglich skeptische Experten und Ethiker rücken von ihren liberalen Überzeugungen ab. Wie erklärt sich dieses Phänomen? Der wesentliche Grund ist darin zu sehen, dass bei Ungeimpften eine sogenannte Konkordanz von Selbst- und Fremdgefährdung besteht: Wer die Impfung gegen COVID-19 ab- lehnt, gefährdet nicht nur sich selbst, sondern eben auch andere. Das unterscheidet ihn beispielsweise von einem Hochrisiko-Sportler, der zwar sich selbst, nicht aber Dritte in Ge- fahr bringt, und dem man deshalb ein (vermeintlich) unvernünftiges Verhalten zubilligt. Solange die Pandemielage „beherrsch- bar“ schien, schien das Risiko der Fremdgefährdung begrenzt – dement- sprechend hielten es viele Bürger für angemessen, Impfskeptikern in dieser Frage ein Freiheitsrecht zuzu- gestehen. Getreu dem Motto: Eine Impfung ist immerhin ein Eingriff in die körperliche Integrität und daher ist es dem Individuum zu überlassen, ob es einer solchen Intervention zu- stimmt oder nicht. Je stärker jedoch die Fremdgefährdung wurde, desto angreifbarer und schwächer wurde dieses Argument. Tatsächlich wuchs in den vergange- nen Wochen die Überzeugung, dass die Ungeimpften die „Treiber“ der Pandemie seien und so die Infektion und Erkrankung vieler geimpfter PROF. DR. DR. DR. DOMINIK GROß Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin der RWTH Aachen University Klinisches Ethik-Komitee des Universitätsklinikums Aachen MTI 2 Wendlingweg 2, 52074 Aachen dgross@ukaachen.de Foto: privat zm 112, Nr. 01-02, 16.1.2022, (18) 20 | POLITIK
Made with FlippingBook
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=