Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 01-02

zm 112, Nr. 01-02, 16.1.2022, (20) (vulnerabler) Mitbürger verschulden – und damit letztlich die wachsende Zahl der Intensivpatienten und der „Corona-Toten“. Entsprechend wird ihnen auch eine Mitverantwor- tung für eine Reihe von „Kollateral- schäden“ der Pandemie zugeschrie- ben: OP-Termine werden wegen Überfüllung der Krankenhäuser ab- gesagt, kranke Mitbürger trauen sich aufgrund der Infektionsgefahr nicht mehr in Kliniken und Praxen und werden so gegebenenfalls un- zureichend medizinisch versorgt, weite Teile der Wirtschaft nehmen Schaden, Selbstständige können auf- grund von Verdienstausfällen ihre PKV-Beiträge nicht mehr aufbringen, die Freiheitsrechte der Geimpften werden durch erneute Restriktionen eingeschränkt. Kurz und gut: Die durch Ungeimpfte verursachte Be- drohung – die besagte Fremdgefähr- dung – dominiert aktuell die öffent- liche Wahrnehmung und relativiert so das Argument der individuellen Selbstbestimmung. Der Schutz dritter Personen erscheint nun vielen als das höhere, schutzwürdigere Gut und das Verhalten eines Impfgegners oder Ungeimpften wird zuvorderst als un- solidarisch beziehungsweise unsozial erlebt. Was bedeutet dies nun für die oben aufgeworfene Fragestellung? Die Auf- fassung, dass der Impfstatus bezie- hungsweise die Vorlage eines aktuel- len Corona-Tests nicht zur Bedin- gung für eine Behandlung gemacht werden können, sollte im Licht der aktuellen Gefährdungslage nochmals überprüft werden. Es ist das „Wesen“ von Pandemiesituationen, dass Ent- scheidungen fortgesetzt angepasst werden müssen – ohne dass die bislang beschlossenen Festlegungen deshalb als Fehlentscheidungen zu qualifizieren wären. Grundsätzlich wird im medizinischen Alltag sehr klar zwischen Notfällen und elektiven Eingriffen unter- schieden. Im Bereich der Notfall- behandlung muss stets eine unbe- dingte Hilfe erfolgen. Dies ist auch geübte Praxis: Wenn eine Person vigilanzgemindert aufgefunden wird oder unfallbedingt verletzt ist, wird sie behandelt werden – auch dann, wenn zuvor keine Patientenaufklä- rung erfolgen, kein förmliches Ein- verständnis gegeben werden kann und wenn weder der Versichertensta- tus noch der COVID-19-Impfstatus noch das Vorliegen sonstiger (konta- giöser) Erkrankungen bekannt sind. Diese Pflicht zur Hilfeleistung gilt analog auch für Patienten, die mit starken Zahnschmerzen oder einer fulminant verlaufenden Abszedie- rung eine Zahnarztpraxis aufsuchen. Niemand wird eine Hilfe im zahn- ärztlichen Notfall an Vorbedingun- gen knüpfen. Kategorial anders sieht es im Bereich der elektiven Behand- lung aus. Wenn ein Patient für einen in der Zukunft liegenden Zeitpunkt einen Behandlungs-, Kontroll- oder Prophylaxetermin ausmacht, unter- liegt er anderen Rahmenbedingun- gen: Er wird erst behandelt werden, wenn er nach Aufklärung in die vorgesehenen Maßnahmen explizit einwilligt (Informed consent). Ebenso selbstverständlich ist in diesem Set- ting, dass er einen Versicherten- nachweis erbringt. Und angesichts der derzeitigen Gefährdungslage er- scheint es ebenso ethisch vertretbar, den Impfstatus abzufragen und im Bedarfsfall die Vorlage eines negati- ven Corona-Tests zu verlangen. Die Gründe hierfür wurden in der Fallskizze bereits angedeutet: Eine Zahnärztin ist nicht nur einem ein- zelnen Patienten verpflichtet, son- dern allen, die sich ihr fachlich anvertrauen – sie befindet sich ihnen gegenüber in einer „Garantenstel- lung“. Das heißt, sie wird durch den bestehenden Behandlungsvertrag verpflichtet, im Rahmen ihrer Mög- lichkeiten Schaden von jedem ihrer Patienten abzuhalten. Bereits das Wartezimmer birgt Ansteckungs- gefahren – umso mehr, wenn nur eine begrenzte Luftzirkulation ge- währleistet werden kann. Dies gilt insbesondere für betagte und vulne- rable Patienten. Zudem trägt sie als Arbeitgeberin Verantwortung für das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter. Aufgrund der von Ungeimpften aus- gehenden Fremdgefährdung sollte es ihr daher zugestanden werden, plan- bare Routinebehandlungen von der Einhaltung der oben angesprochenen 3G-Regelung (oder auf Länderebene erlassenen anderen Corona-Regelun- gen) abhängig zu machen. Diese Hal- tung ist hierbei nicht als Missachtung des Individualrechts auf Selbstbestim- mung zu werten. Sie ist vielmehr das Ergebnis eines ethischen Abwägungs- prozesses, bei dem sie das gesund- heitliche Wohlergehen der ihr anver- trauten Personen höher gewichtet als das individuelle Freiheitsrecht. Diese Abwägung wird dabei umso eindeuti- ger ausfallen, je höher die allgemeine COVID-19-Gefährdungslage (Inzi- denz, Hospitalisierungsrate) ist. \ 22 | POLITIK

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