INTERVIEW MIT PROF. DR. JENS CHRISTOPH TÜRP UND DR. SZILVIA MEZEY MÜSSEN DIE LEHRBÜCHER GEÄNDERT WERDEN? Wie kamen Sie dazu, den Aufbau des M. Masseter näher unter die Lupe zu nehmen? PROF. DR. JENS CHRISTOPH TÜRP: Ich schaue mir gern alte Fachliteratur der Zahnmedizin an. Dazu zählen nicht nur Bücher, sondern auch alte Zeitschriften, wie die Österreichisch-ungarische Vierteljahrsschrift für Zahnheilkunde. Das ist sehr bereichernd, weil viele der damaligen Erkenntnisse im Laufe der Zeit verloren gegangen sind. Im Rahmen einer solchen Recherche bin ich auf die Beschreibung eines Muskels gestoßen, der damals als Musculus zygomaticomandibularis bezeichnet wurde. Da dieser Muskel in mehreren einschlägigen Werken erwähnt wurde, unter anderem bereits im Jahr 1845, wurden wir neugierig. In Toldts Anatomischem Atlas für Studierende und Ärzte heißt es beispielsweise in 3. Lieferung der 6. Auflage von 1908 auf Seite 305: „Durch teilweise Abtragung des Masseters wurde der oberflächliche Anteil des Musculus zygomaticomandibularis, welcher gewöhnlich als tiefe Portion des Masseters bezeichnet wird, freigelegt. DR. SZILVIA MEZEY: Wir waren auf der Suche nach dem tiefen Anteil des M. zygomaticomandibularis, der im Atlas weder angezeigt noch im Detail beschrieben worden war. Toldt hatte damals noch den jetzt als oberflächliche Schicht des M. masseters genannten Muskelteil in vier weitere Lappen gespalten, diese sind aber in modernen Atlanten ebenso nicht mehr dargestellt. In späteren Auflagen hatte Toldt schon die internationale Nomenklatur verwendet und den M. zygomaticomandibularis pars superficialis als den M. masseter pars profunda bezeichnet – eine genauere Zuordnung und Beschreibung des tiefen Anteils des M. zygomaticomandibularis blieb aber weiterhin aus. Sie haben daraufhin begonnen, an gespendeten Körpern nach diesem M. zygomaticomandibularis zu suchen. MEZEY: Ja, wobei ich zunächst damit gerechnet habe, keine neue Muskelschicht, sondern eher anatomische Varianten zu entdecken. Dafür habe ich bei der Präparation zunächst den Masseter Schicht für Schicht abgelöst. Was mich überrascht hat, war, dass ich in der Tiefe immer diesen ganz anderen Verlauf der Fasern gefunden habe. Der Muskel konnte auch in den Computertomogrammen gesehen werden. Es gab auch schon andere Autoren, die diesen Verlauf beschrieben haben, allerdings hat niemand sich eingehender damit befasst. Wir haben diese Wissenslücke gefüllt und wissen jetzt, dass es eine dritte Schicht des M. masseter gibt. Wir vermuten, dass der Pars coronoidea dem tiefen Anteil des M. zygomaticomandibularis entspricht. Gibt es durch ihre anatomische Entdeckung neue Erkenntnisse über Bruxismus oder CMD? MEZEY: Wir können momentan nur anhand des Faserverlaufs auf Funktionen des Pars coronoidea schließen. Auf dieser Grundlage des Ansatzes und Ursprungs scheint er für eine Retrusionsbewegung sowie für die Stabilisierung der Kiefergelenksstruktur verantwortlich zu sein. TÜRP: Was Bruxismus und andere Krankheitsbilder angeht, können wir aktuell keine Konsequenzen ableiten. Allerdings haben wir bereits eine Zuschrift aus den USA erhalten, in der ein Patient berichtet, dass er genau in diesem von uns anatomisch beschriebenen Bereich der Pars coronoidea Schmerzen habe. Sind diagnostische beziehungsweise therapeutische Konsequenzen absehbar? TÜRP: Was die Diagnostik angeht, so ist die Pars coronoidea von außen nicht palpierbar. Aber wir wissen nun, dass es unter den zwei bereits bekannten Schichten des M. masseter noch eine weitere Struktur gibt. Schmerzen in der Tiefe dieser Region wurden bislang häufig dem Pterygoideus lateralis zugeschrieben, was sich nun ändern könnte. Wie geht es jetzt weiter? MEZEY: Verschiedene nationale und internationale Forschungsteams befassen sich jetzt mit unserer Entdeckung, um sie zu prüfen. Es sind Studien zur Klärung der genauen Funktion des Muskels mithilfe von intramuskulärer abgeleiteter Elektromyografie geplant. Auch histologisch wird der Muskel genauer unter die Lupe genommen. Müssen die anatomischen Lehrbücher nun geändert werden? MEZEY: Mittelfristig ja, wenn die wissenschaftliche Community die Entdeckung anerkennt. Der Prozess ist allerdings langwierig. Zunächst muss diese Muskelschicht in weiteren Studien, insbesondere von klinischer Seite, noch bestätigt werden. Wenn von internationalen Anatomiegesellschaften anerkannt wird, dass diese Muskelschicht existiert, kann sie in der Nomenklatur (Terminologia anatomica) aufgenommen werden. Hierfür muss das Federative International Programme for Anatomical Terminology (FIPAT) zusammenkommen, das allerdings – mit anatomischem Zeitmaß gemessen – vor Kurzem, im Jahr 2020, getagt hat. Wahrscheinlich sind wir nun die Ersten in der Schlange mit einer neuen Struktur. Bis zur Aufnahme in die Lehrbücher der Anatomie kann es also noch einige Jahre dauern. Foto: Basilisk, Basel Foto: privat Dr. Szilvia Mezey und Prof. Dr. Jens Christoph Türp Anatomisches Institut der Universität Basel; Universitäres Zentrum für Zahnmedizin Basel (UZB) zm112, Nr. 3, 1.2.2022, (173) ZAHNMEDIZIN | 19
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