Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 5

zm112, Nr. 5, 1.3.2022, (398) INTERVIEW MIT DEM ALLGEMEINMEDIZINER UND WISSENSCHAFTLER DR. MATTHIAS MICHIELS-CORSTEN „Wir sollten die Patienten ausreden lassen“ Den Patienten genügend Raum geben, ihre Beschwerden zu schildern – das kann im ärztlichen Gespräch helfen, bei der Diagnose schnell aufs Wesentliche zu kommen. Wenn Patienten ihre Probleme frei und ohne Unterbrechung darlegen können, erhalten Ärzte wertvolle Hinweise, hat ein Wissenschaftlerteam der Universität Marburg rund um den Allgemeinmediziner Dr. Matthias Michiels-Corsten herausgefunden. Ihre Erkenntnisse gelten keinesfalls nur für Allgemeinärzte, sondern auch für andere medizinische Bereiche. Herr Dr. Michiels-Corsten, Sie forschen mit Prof. Dr. Norbert Donner-Banzhoff und Ihrem Team zur Rolle des Patienten im ärztlichen Konsultations- und Diagnoseprozess. Warum ist dieser Ansatz so wichtig? Dr. Matthias Michiels-Corsten: Die Wege zu einer Diagnose sind komplex und für Außenstehende oft undurchsichtig. Selbst Studierenden ist oft schwer zu vermitteln, was da eigentlich passiert. Unser Ziel ist es, die Prozesse zu verstehen und transparent zu machen. Nur so können wir diese reflektieren, verbessern und angehenden Kolleginnen und Kollegen beibringen. Wie läuft ein ärztliches Konsultationsgespräch in der Regel ab? Wir konnten zeigen, dass die meisten Konsultationen mit einer offenen Phase – dem sogenannten „induktiven Streifen“ – beginnen. In dieser Phase werden die Patientinnen und Patienten aufgefordert, ihre Symptome frei zu schildern. Daran schließen sich dann meist gezielte Strategien an, bei denen die Ärztinnen und Ärzte durch spezielle Fragen oder Tests Hypothesen festigen und nach Möglichkeit bestätigen oder verwerfen. Und was sollte Ihren Erkenntnissen zufolge anders laufen, um den Diagnoseprozess effektiver zu gestalten? Den Großteil der diagnostisch wichtigen Informationen erhielten die Ärztinnen und Ärzte in unseren Studien während der ersten offenen Phase des induktiven Streifens. Wir sehen diese Phase als sehr wichtig und gewinnbringend für alle Parteien an. Den Patienten sollte also bewusst Zeit und Raum gegeben werden, ihre Beschwerden zu schildern. Die ärztliche Rolle sollte sich in dieser Phase auf ein aktives Zuhören konzentrieren, das heißt auch die Patienten ausreden zu lassen. Der Patient soll bei der Diagnose also eine aktive Rolle übernehmen. Welche Vorteile sehen Sie in dem Prozess, den Sie als „induktives Streifen“ bezeichnen? Die Patientinnen und Patienten führen uns Ärzte – sozusagen wie „einen schnüffelnden Hund an der Leine“ – an die wichtigen und entscheidenden Stellen des sehr großen und weiten „diagnostischen Raums“. Dort angelangt können die folgenden eher ärztlich dominierten Strategien mit weiteren Fragen und Tests gezielt eingesetzt werden. Vielleicht kann dadurch auch ein Zuviel an Untersuchungen vermieden werden. Wie können Ärztinnen und Ärzte davon profitieren? Wenn man sie denn lässt, unterstützen die Patienten ihre Ärzte aktiv bei der Diagnosestellung. So kann ein zeitaufwendiges Suchen „an den DR. MATTHIAS MICHIELS-CORSTEN ... ist Allgemeinmediziner und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Abteilung für Allgemeinmedizin, Präventive und Rehabilitative Medizin der Universität Marburg. Foto: privat 28 | PRAXIS

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