Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 5

zm112, Nr. 5, 1.3.2022, (412) wäre ein Verlust an Okklusionsfläche im posterioren Bereich beziehungsweise die Extrusion posttherapeutisch nicht mehr abgestützter zweiter Molaren im Gegenkiefer die Folge. Bei circa 25 Prozent der Patienten weisen die Weisheitszähne vor allem aufgrund von Platzmangel im Zahnbogen eine komplette oder eine partielle Impaktion auf [Carter/Worthington, 2016]. Der orthodontische Lückenschluss durch Mesialisation der Seitenzähne führt zu einer Verbesserung der Platzverhältnisse für die 8er und folglich sehr häufig zu deren Durchbruch und Integration in den Zahnbogen [Baik et al., 2020; Ay et al., 2006]. Bemerkenswert ist, dass sich (nach Platzschaffung) ursprünglich stark mesioangulierte Weisheitszähne im Lauf ihrer Entwicklung oft passiv, annähernd achsengerecht und ohne Lückenbildung in den Zahnbogen einreihen (Abbildung 11). Die relativ gute Prognose für die erfolgreiche Einstellung impaktierter Weisheitszähne nach Mesialisation der Seitenzähne wirft die Frage auf, ob die Extraktion beschwerdefreier, asymptomatischer 8er grundsätzlich vorgenommen werden soll [Kandasamy/Rinchuse, 2009]. Ein häufiges Argument für eine prophylaktische Entfernung ist, dass zukünftig mögliche, mit ganz oder partiell impaktierten 8ern assoziierte, Pathologien möglicherweise vermeidbar sind [Huang et al., 2014; Nunn et al., 2013; Fisher et al., 2012]. Die in entsprechenden Studien gefundenen Zusammenhänge sind jedoch teilweise kontrovers, und deren Evidenz sowie die klinische Relevanz dieser Faktoren werden in einem entsprechenden Cochrane-Review als relativ gering und unsicher eingestuft [Ghaeminia et al., 2020]. Zwar spricht für eine möglichst frühe 8er-Extraktion, dass eine Durchführung (nach Problemen) im höheren Alter häufiger mit schwereren Komplikationen, wie zum Beispiel der Schädigung des N. alveolaris, verbunden sein kann [Renton et al., 2012; Chuang et al., 2007], jedoch muss dieses Argument auch mit den grundsätzlichen Risiken und postoperativen Begleiterscheinungen einer operativen Entfernung impaktierter 8er, wie zum Beispiel temporären oder sogar längerfristigen Sensibilitätsstörungen, Infektionen und sekundären Blutungen, abgewogen werden. Das Argument, dass durch die Entfernung impaktierter Weisheitszähne tertiäre Engstände vermieden oder reduziert werden können, ist nicht haltbar; sowohl der frontale Engstand als auch die Zahnbogenbreite und -länge zeigten keinen signifikanten Unterschied zwischen Patienten, bei denen die 8er prophylaktisch extrahiert oder belassen wurden [Harradine et al., 1998]. Aus kieferorthopädischer Sicht ist der mögliche Ersatz von (später) nichterhaltungswürdigen Seitenzähnen durch einen sich primär nicht in Funktion befindlichen natürlichen Zahn ein gewichtiges Argument gegen eine prophylaktische Extraktion beschwerdefreier, (teil-)impaktierter Weisheitszähne (siehe Patientenbeispiele 1, 2 und 4). Auch bei moderaten bis starken Engständen und einer Entscheidung des Patienten für eine Zahnfehlstellungskorrektur im späteren Alter fällt die Entscheidung für eine Prämolarenextraktionstherapie leichter, wenn infolge der Platzschaffung distal im Zahnbogen realistische Chancen für eine 8er-Einstellung und somit für einen Ersatz der extrahierten Prämolaren durch einen natürlichen Zahn bestehen. Zwar kann die Extraktion impaktierter 8er im Fall von Beschwerden und auf Basis einer auf den einzelnen Patienten zugeschnittenen Risikound Gesamtbetrachtung durchaus sinnvoll und gerechtfertigt sein [Finnish Medical and Dental Societies, 2020; KIMO Kennisinstituut Mondzorg, 2020]. Im Gegensatz dazu ist bei beschwerdefreien, asymptomatischen (komplett oder partiell impaktierten) Weisheitszähnen eine prophylaktische Extraktion ohne besonderen Grund nur schwierig durch wissenschaftliche Evidenz zu rechtfertigen. Bei dieser Gesamtbetrachtung sollte bestenfalls durch die Konsultation eines Kieferorthopäden mit abgeklärt werden, ob eine Zahn- und/oder Kieferfehlstellungskorrektur mit ExPatientenbeispiel 3: Initialer Befund mit Aplasie des Zahns 35 Abb. 8: Befunde vor Beginn der Therapie im Alter von 14 Jahren: a und b: Frontal- und Lateralansicht mit Zahn 24 in bukkaler Non-Okklusion. c: Aufsicht auf den Unterkieferzahnbogen mit deutlicher Mesiorotation von Zahn 33 bei Persistenz des relativ breiten Zahnes 75. d: Auf der Panoramaschichtaufnahme ist die Aplasie 35 zu diesem Zeitpunkt eindeutig diagnostizierbar. Im 3. Quadranten ist (wie in allen Quadranten) der Weisheitszahn angelegt, weshalb ein orthodontischer Lückenschluss regio 35 mit Mesialisation von 36 und 37 geplant wurde, mit wahrscheinlicher späterer spontaner Einstellung von 38 zur Abstützung von 27. Quelle: Bernd G. Lapatki 42 | ZAHNMEDIZIN

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