zm112, Nr. 6, 16.3.2022, (500) Die Tränen fließen „Wir hatten einen schweren Tag. Wie überall in der Ukraine wird hier hart gekämpft. Es ist schrecklich. Ich finde nicht die Worte, um es zu beschreiben. Ich bin mit meiner Schwester und den Kindern gerade im Keller unseres Hochhauses. Wir sind gesund. Wir leben. Wir helfen, wo wir können. Den Soldaten und Bedürftigen. Wir haben all unsere Medikamente, warme Kleidung etc. weggegeben. Nahrungsmittel werden knapp. Die Supermärkte sind geschlossen. Wir haben noch für etwa vier Tage zu Essen. Wasser ist noch genug da. Möge der Himmel über uns friedlich bleiben.“ Unsere Freunde organisieren sich in Bürgerwehren. Viele treten in die Armee ein, um ihr Land zu verteidigen. Eine unbeschreibliche und rührende Solidarität und Kampfmoral erfasst das Land. Flüchtlinge werden untergebracht. Bedürftige versorgt. Restaurants kochen umsonst für die Bürger. Lieferdienste beliefern kostenlos Bedürftige. Blut wird gespendet. Obdachlose sammeln Flaschen für Molotow-Cocktails, Erste-Hilfe-Kurse werden organisiert, in der Nachbarschaft geholfen, Stellungen befestigt. Zeitgleich heulen die Sirenen, die Menschen rennen in die Bunker, Keller und Metros, harren aus, wenn die Bomben fallen, gebären Kinder! Sogar solche banalen Sachen wie Tierfutter, das knapp wird, führt zu kleinen Katastrophen, weil man das geliebte Haustier nicht mehr versorgen kann. Mein Onkel läuft jeden Abend zusammen mit bewaffneten Nachbarn durch die Straßen, um Plünderer und Diebe abzuwehren. Es erreichten Sie sicher auch Videos und Bilder, wie sich Menschen vor russische Panzer legen, um sie an der Weiterfahrt zu hindern. All diese Bilder, Nachrichten und Telefonate wühlen uns täglich auf und wir vergießen Tränen der Verzweiflung, des Stolzes, der Wut und auch der Hoffnung. All diese Menschen sind Helden. An diesem Krieg zerbrechen auch viele ukrainischrussischen Freundschaften. Ich habe viele russische Bekannte und Freunde. Aber nur wenige äußern ihre Bestürzung. Manche verteidigen sogar das Vorgehen. Sie alle sprechen wie aus einem Mund. Dieselben irren Thesen aus dem russischen Staatsfernsehen. Für uns sind sie verloren. Wenn das alles vorbei ist, wird die Enttäuschung über das Schweigen unserer russischen Freunde bleiben und Freunde werden wir wohl nie wieder sein. Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wende mich heute nicht nur als Kollege an euch, sondern vor allem als gebürtiger Ukrainer. Seit dem 24. Februar 2022 haben wir so etwas wie eine Zeitrechnung unter uns Ukrainern. Heute war Tag 7 seit Beginn des russischen Angriffs. Wir haben Familie, Freunde und Bekannte in Dnipro. Es ist auch unheimlich schwer, unserer sechsjährigen Tochter zu erklären, was gerade bei Oma und Opa passiert. Ich beschloss kurzerhand am Tag 2 (25. Februar 2022) zusammen mit einem Freund sofort zur Grenze zu fahren. Am selben Abend erreichten wir noch viele Freunde und Kollegen. Über Nacht organisierten wir einen Transporter. Dies war auch der Beginn einer riesigen Hilfswelle der ukrainischen Diaspora in ganz Deutschland. Wir organisieren, beschaffen Hilfsgüter, verteilen, fahren an die Grenzen, abends Zoom-Meetings. Just in diesem Moment erreicht mich eine Anfrage für eine eilige Medikamentenlieferung an die polnischukrainische Grenze. Wir haben täglich Kontakt zu Freunden und Familie aus den umkämpften Städten. Meine Bekannte schrieb mir folgendes aus Kiew an Tag 4 (27. Februar 2022): Quelle: AdobeStock_wolcan / Dimitri Schulz Dimitri Schulz ist niedergelassener Zahnarzt in Stuttgart-Feuerbach. Diese Zeilen schrieb er uns am 2. März. Einen Tag später wird er wieder in die Ukraine fahren, um dort Arzneimittel zu verteilen. Schulz hat einen deutschen Pass, nur deshalb kommt er über die Grenze. 22 | POLITIK
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=