zm112, Nr. 8, 16.4.2022, (771) Erkenntnisse entsprechen und den medizinischen Fortschritt berücksichtigen“ [BMG, 2016]. EVIDENZ-GESTÜTZTE MEDIZIN UND „GANZHEITLICHKEIT“ Bei der medizinischen Konsensbildung hat sich der sogenannte MetaKonsens auf der Basis wissenschaftlicher Evidenz als wichtiger – wenn auch nicht alleiniger – Baustein erwiesen. Dabei werden die zu einem bestimmten Thema vorhandenen Studien nach deren Qualität gesichtet und eingeordnet. Studien, die allgemein anerkannten Qualitätskriterien genügen, werden in Metaanalysen zusammengefasst, deren Aussagen wiederum dazu dienen, den oben zitierten „Stand der medizinischen Erkenntnisse“ darzustellen. Auch wenn das Schließen von Evidenzlücken unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit des Mitteleinsatzes nicht immer möglich, ethisch vertretbar und auch nicht immer erforderlich ist, kann diese Vorgehensweise unabhängig davon gesehen werden, um welchen Medizinansatz es sich handelt. Es geht heute nicht mehr um Abgrenzungen wie etwa „Soma“ versus „Psyche“, auch nicht um solche von „Chemie“ versus „Natur“, sondern darum, ob man bereit ist, seine jeweiligen Hypothesen nach aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen auf den Prüfstand zu stellen oder ob man dies unterlässt. So wurde beispielsweise früher eine Einordnung der „klassischen Naturheilkunde“, die sich vornehmlich mit Einflüssen natürlicher Reize wie Bewegung, Wärme, Kälte, Klima, Sonne, Luft, Wasser oder Diät beschäftigt, wegen zuweilen geringer Evidenznachweise erschwert. Inzwischen sind einige der Vorstellungen bei entsprechend fundierten Studienergebnissen Bestandteil der hier zur Rede stehenden Evidenz-gestützten Medizin geworden. Heute allgemein akzeptiertes Ziel der Medizin ist es, Forschung, Lehre und Patientenversorgung auf ein breites wissenschaftliches Fundament verschiedener Disziplinen zu stellen. Vor dem Hintergrund einer steigenden Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Medizin muss darauf geachtet werden, dass Evidenz nicht nur interessengebunden und selektiv produziert wird, sondern übergeordnete gesundheitliche Anliegen Priorität erhalten. Es geht um eine Vermeidung einseitiger und starrer Denkmuster und eine Öffnung für umfassende Sichtweisen. Eine so verstandene „Ganzheitlichkeit“ ist nicht einer besonderen Richtung vorbehalten, sondern ein Merkmal jeder seriösen Medizin. Vor diesem Hintergrund ist die zuweilen tendenziös gebrauchte Bezeichnung „Ganzheitsmedizin“ im Sinne einer Außenseitermethode nicht sachgerecht. FREIHEIT DER FORSCHUNG Die Wissenschaft ist vom Wesenskern her ein freier, transparenter und ergebnisoffener Prozess („semper apertus“). Unterschiedliche Positionen müssen unter fairen Bedingungen vorgetragen und verteidigt werden können. Dispute sind gerade bei konträren Einschätzungen außerordentlich hilfreich, ja geradezu notwendig. Die zuweilen vorgebrachte Forderung, die medizinische Wissenschaft müsse zur Vermeidung von Verunsicherungen „mit einer Stimme sprechen“, ist deshalb bedenklich und kontraproduktiv, insbesondere wenn es um umstrittene und ungeklärte Fragestellungen geht. Anstelle von „Wegschauen“ ist ein Dialog zwischen Vertretern verschiedener Richtungen von hoher Relevanz. Ein Problem dabei ist allerdings, dass in der öffentlichen Wahrnehmung zuweilen nicht ganz klar ist, wofür verschiedene medizinische Konzepte heute eigentlich stehen. DIFFERENZIERUNGEN: ALTERNATIVE – KOMPLEMENTARITÄT – INTEGRATION Es gibt inzwischen Versuche, die Vielfalt der in der Einleitung genannten Richtungen in drei übergeordnete Gruppen zu unterteilen: die Alternativmedizin (Stichwort: „Andersartigkeit“), Komplementärmedizin (Stichwort: „Ergänzung“) und Integrativmedizin (Stichwort: „Einbeziehung“). Dies gelingt allerdings nur bedingt, denn das Spektrum der Richtungen ist nicht nur sehr groß, sondern gleichzeitig außerordentlich heterogen und unübersichtlich. Um im Einzelfall eine Einordnung überhaupt vornehmen zu können, ist eine hinreichend genaue Definition unabdingbar. Moderne Etikettierungen wie „Komplementärmedizin“ oder „Integrativmedizin“ bergen die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit in sich und verschleiern oftmals ihre wesentlichen Merkmale. Wie eingangs begründet, reicht es auch nicht aus, sie mit Schlagwörtern wie „Ganzheitsmedizin“ oder ähnlichem zu charakterisieren. Nicht selten geht es nämlich bei neuen Bezeichnungen lediglich um äußere Umetikettierungen bei Belassung der alten Inhalte. BEISPIEL HOMÖOPATHIE Ein bekanntes Beispiel für Etikettenverschiebungen ist die durch Samuel Hahnemann (1755–1843) begründete Homöopathie, die sich von Anfang an dezidiert als Alternative zur konventionellen Medizin abzugrenzen suchte, indem sie diese in einem abwertenden Kontext als „Allopathie“ oder „Schulmedizin“ bezeichnete. Obwohl sich an den grundlegenden Denkmustern der Homöopathie (Postulierung einer spezifischen Arzneimittelwirkung extrem verdünnter Substanzen) bis heute nichts Wesentliches geändert hat, präsentieren sich Homöopathen inzwischen als Integrativmediziner, die sogar mit Universitäten kooptiert sind. Eine Integration in der Forschung ist allerdings nach wie vor kaum erkennbar. Dies gilt auch für die Homöopathie in der Zahnmedizin [Feldhaus, 2007; Volkmer, 2013], für deren wissenschaftliche Grundlage bis heute jegliche Nachweise ausstehen. Die konkrete Kritik an der Homöopathie umfasst folgende fünf Punkte: PROF. DR. DR. HANS JÖRG STAEHLE Poliklinik für Zahnerhaltungskunde der Klinik für Mund-, Zahn- und Kieferkrankheiten des Universitätsklinikums Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg hansjoerg.staehle@med.uni-heidelberg.de Foto: Uniklinikum Heidelberg ZAHNMEDIZIN | 69
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