Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 9

zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (880) SOZIALE ZAHNHEILKUNDE, SCHULZAHNPFLEGE UND DENTAL PUBLIC HEALTH IN DEUTSCHLAND Viel mehr als nur Prävention Matthis Krischel, Julia Nebe Für die Sicherstellung und Förderung der Zahngesundheit ab dem frühen Kindesalter sorgen in Deutschland seit mehr als 100 Jahren „Dental Public Heath“-Maßnahmen. Doch wie sahen die Grundzüge der Entwicklung der sozialen Zahnheilkunde in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert aus? Und welche politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, Höhen und Tiefen spielten bei der öffentlichen (Mund-)Gesundheitsversorgung eine Rolle? Ein kritischer Blick auf den langen Weg hin zu dem allumfassenden zahnärztlichen PublicHealth-Ansatz von heute. Bereits 1877 hatte der Pädiater und Sozialhygieniker Adolf Baginsky (1843–1918) in seinem „Handbuch für Schulhygiene“ auf den Zusammenhang zwischen Mundgesundheit und dem Gesundheitszustand des kindlichen Gesamtorganismus hingewiesen [Kanther, 1998:21]. Eine systematische Untersuchung von kindlichen Gebissen „zur Beeinflussung der Zahnanlage im Sinne einer späteren Residenz der Hartgewebe gegen Karies“ [Tholuck, 1928:85] setzte sich auf deutschem Reichsgebiet aber erst im Kontext der aufstrebenden Schulhygiene an der Wende zum 20. Jahrhundert durch. Ihr erklärtes Ziel war es, durch die regelmäßige gesundheitspflegerische Betreuung von Schulen Erkrankungen von Schülerinnen und Schülern vorzubeugen, sie frühzeitig zu erkennen und wenn nötig entsprechende Therapiemaßnahmen aufzuzeigen [Hideharu, 2009: 163]. Eingebettet waren diese Bestrebungen in die allgemeinen wissenschaftlichen Entwicklungen einer deutschen Volksund Sozialhygiene. Als Interventionsform bediente sich diese der öffentlichen „Gesundheitsfürsorge und Gesundheitsprävention, die sich vornehmlich auf Zusammenhänge zwischen Gesundheit, Krankheit und den sozialen Lebensbedingungen beruft und vor diesem Hintergrund vorbeugend und heilend wirken will“ [Eckart, 2005: 1344]. Hierzu wurden als gefährdet angesehene Bevölkerungsgruppen beobachtet und deren Gesundheit statistisch erfasst. Gesundheitliche Beratung und Erziehung sollten sie zur verbesserten Selbstsorge ermächtigen [Labisch, Woelk, 2016:72]. RESOLUTION ZUR BEKÄMPFUNG DER KARIES Ein Etappensieg im Bereich der Zahnmedizin markierte daher die „Resolution zur Bekämpfung der Karies“, die von 42 Zahnärzten und zehn Zahnheilkundestudierenden aus Skandinavien, Deutschland und Großbritannien auf dem V. Internationalen Kongress für Volkshygiene (1894) im dänischen Kopenhagen auf den Weg gebracht wurde [Klein, 1910]. Dieser war zu entnehmen: „daß die Zahnkaries (Zahnfäule) bei allen zivilisierten Völkern epidemischen Charakter angenommen hat, und daß sie dringend der Gegenmaßregeln, namentlich im Kindesalter, erheischt. Der Kongress empfiehlt, in allen Ländern Kommissionen zu bilden, welche es sich zur Aufgabe machen, die Zahnverhältnisse der betreffenden Länder statistisch festzulegen und die Behörden, welchen die Überwachung der Gesundheitspflege ihrer Länder obliegt, darauf aufmerksam zu machen, unter gleichzeitigem Hinweis auf die zur Bekämpfung der Zahnkaries geeigneten Maßregel“[Herzog, 2015]. ZWISCHEN SOZIALHYGIENE UND RASSEWAHN In der Folgezeit wurden in mehreren deutschen Städten zahnmedizinische „Reihenuntersuchungen“ an Schulkindern vorgenommen. Der wohl erste Zahnmediziner, der eine solche Reihenuntersuchung planmäßig an Schulen durchführte, war der Kasseler und preußische Hofzahnarzt Carl Zimmer im Jahr 1879 [Groß, 2006: 151, Herzog, 1955]. Zu internationalem Renommee brachte es der ebenfalls im Bereich der quantitativen Bestimmung der Kariesmorbidität tätige Arzt und Zahnarzt Carl Röse (1864–1947) [Groß, Hanson, 2020, Groß, 1994: 307]. Er übernahm um 1900 die Leitung des durch den Dresdener Großindustriellen Karl August Lingner (1861–1916) gestifteten „Zentrum für Zahnhygiene“ [Nickol, 1992:55]. Der finanzielle Rückhalt durch Lingner ermöglichte es Röse in der Folgezeit, zahlreiche Kariesstudien im In- und DR. MATTHIS KRISCHEL Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf matthis.krischel@hhu.de Foto: privat 70 | GESELLSCHAFT

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