zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (881) Ausland durchzuführen. Neben Deutschland zählten zu den untersuchten Gebieten Schweden, Dänemark, Belgien, Österreich-Ungarn und die Schweiz [Nickol, 1992:76, Röse, 1904: 131]. Das alarmierendes Ergebnis für sein Heimatland: 70 bis 90 Prozent der sechs- bis zwölfjährigen Schulkinder in Deutschland litten an Karies [Röse, 1895, Fenchel, 1896]. Während Lingner, der Vater des noch heute verkauften Odol-Mundwassers, mit dem Zentrum insbesondere die praktische Durchführung sozialhygienischer Maßnahmen fördern wollte, verband Röse mit seiner Forschung zur Kariesätiologie rassenbiologische Fragestellungen [Nickol, 1994:25]. 1889 hatte bereits Miller, der Begründer der oralen Mikrobiologie und zahnärztlichen Hygiene, darauf verwiesen, dass „die Häufigkeit der Zahncaries bei civilisierten Racen eine größere ist als bei den Wilden“ [Miller, 1889:174]. Miller hatte dafür vor allem die unterschiedlichen Nahrungsgewohnheiten verantwortlich gemacht, Röse hingegen orientierte sich an der von dem Genetiker und Zoologen August Weismann (1834–1914) auf den Weg gebrachten deterministischen Vererbungslehre [Nickol, 1992:71]. Ergänzt wurden die statistischen Erhebungen zur Kariesmorbidität durch hygienische Volksbelehrung. Auf dem Gebiet der Mundhygiene und Oralprophylaxe wurden die Entwicklungen durch einen Erlass des preußischen Kulturministeriums an die Schulen flankiert: „Wir ersuchen [...] die Schulbehörden, dafür Sorge zu tragen, dass bei dem naturkundlichen Unterricht regelmäßig auf die Bedeutung der rationellen Zahn- und Mundpflege, natürlich auch schon in prophylaktischer Beziehung, nachdrücklich hingewiesen und den Schülern die hierfür erforderliche Anleitung gegeben wird“ [Ritter, 1903]. In der Folgezeit kam es zur Vermittlung von entsprechendem Inhalten durch Vorträge vor Lehrerkonferenzen, Elternversammlungen oder Vereinen sowie die Verteilung von Merkblättern für Eltern und Kinder. Die hygienische Volksbelehrung griff ebenfalls auf Visualisierungsstrategien zur Vermittlung von Wissen durch Bilder zurück [Rittershaus, 2013:3]. Ein Beispiel für diese Variante von Wissensvermittlung bildete die von dem Straßburger Privatdozenten für Zahnheilkunde Ernst Jessen (1859– 1933) und dem Pädagogen und Publizisten Bruno Stehle (1852–1932) entwickelte Schulwandtafel (Abbildung 1) [Hideharu, 2011:224]. Bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts waren auch soziale Determinanten von (Mund-)Gesundheit bekannt. So verglich der Dessauer Zahnarzt Georg Michelsohn (1876–1968) im Jahr 1923 die Zahngesundheit von Hilfs- und Gymnasialschülern und stellte fest, dass aus der ersten Gruppe nur jedes fünfte Kind eine Zahnbürste besaß; der Zustand ihrer Zähne war entsprechend [Halling, Krischel, 2020]. SCHULZAHNKLINIKEN IM AUFSCHWUNG Die erste Schulzahnklinik wurde 1902 im elsässischen Straßburg gegründet. Dort erhielten unbemittelte Volksschulkinder eine kostenlose Behandlung. Leiter der genannten Institution war kein geringerer als der bereits erwähnte Jessen [Groß, 2018a:84–85, Kanther, 1998:19–22]. Andernorts wurden Schulzahnkliniken durch private Stiftungen unterstützt, so wie die in Frankfurt am Main gegründete Zahnklinik, deren Ursprung auf die Freiherr Carl von Rothschild‘sche Stiftung zurückgeht [Kirchoff, Heidel, 2016:239]. Begleitet waren diese privaten und lokalen Aktivitäten durch (standes-) politische Entwicklungen. So kam es im Jahr 1909 zur Konsolidierung der „Deutschen Zentralkomitees für Zahnpflege in den Schulen“ [Groß, 1994:310, Groß 2018a:85]. Teil des multidisziplinären Gremiums waren Spitzenvertreter aus den Bereichen Politik, Bildung, (Zahn-)Medizin, Verwaltung und Finanzen. Aus der Satzung des Komitees ergab sich in der Folge ein Aufgabenkatalog, der im Wesentlichen drei Ziele avisierte: Neben der Einrichtung einer öffentlich-hygienischen Volksaufklärung über Zahnpflege, waren die selben Maßnahme zur Oralprophylaxe ebenfalls über alle Schulformen hinweg zu implementieren. Parallel galt es, „staatliche und kommunale Körperschaften zur Förderung diesbezüglicher Intentionen“ [Hahn 1983, 32] einzurichten. DREI SYSTEME DER SCHULZAHNPFLEGE Im Jahr 1919 existierten in Deutschland bereits 229 Schulzahnpflegeeinrichtungen [Groß, 1994: 312–317, Groß 2006:157, Groß, 2018b, Kirchoff, Heidel: 2016:242–247]. Dabei gab es bis 1933 im Wesentlichen drei verschiedene Systeme der Schulzahnpflege: Das wohl bekannteste System geht auf den jüdischen und durch den Nationalsozialismus (NS) verfolgten Zahnmediziner und Bonner Lehrstuhlinhaber für Zahn-, Mund- und Kieferkrankheiten Alfred Kantorowicz (1880–1962) zurück. Kantorowicz hatte zunächst 1913 in Ruhpolding und dann 1919 in Bonn eine überaus erfolgreiche systematische und planmäßige zahnärztliche Betreuung von Schulkindern implementiert; das sogenannte Bonner-System [Groß, 2018c:102, Kantorowicz 1936], das er wie folgt beschrieb: Abb. 1: Schulzahntafel [Jessen, Stehle, 1909, 55]: GESELLSCHAFT | 71
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=