zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (882) „Das ganze Geheimnis der planmäßigen Schulzahnpflege beruht darauf, dass alle Kinder halbjährlich untersucht und im Bedarfsfalle behandelt werden, ohne zwischen arm und reich zu unterscheiden, und dass die Behandlung in die Schulzeit fällt. Ob sie von beamteten oder Privatzahnärzten [behandelt wurden] – die Ergebnisse waren immer gleich, das Ziel annährend 100prozentig erreicht“ [Kantorowicz, 1936:20]. In der Tat wies das Bonner System einen großen Sanierungsgrad auf. Dieser lag im Jahr 1928 bei rund 90 Prozent. Jedem hauptamtlich tätigen, angestellten Schulzahnarzt oblag die Fürsorge für 6.000 Patienten, die Behandlung erfolgte in Schulzahnkliniken, so dass für Schulkinder keine freie Zahnarztwahl bestand. Als nachteilig waren die mit dieser Vorgehensweise verbundenen hohen Kosten. Viele niedergelassene Zahnärzte opponierten vor allem aus wirtschaftlichen Gründen gegen das sozialmedizinisch ausgerichtete System. Die letztgenannte Problematik sollte vor dem Hintergrund einer am Volkskörper ausgerichteten NS-Gesundheitspolitik ab 1933 propagandistisch an Fahrt gewinnen [Kirchof, Heidel, 2016:249, Kanther, 1998:39]. Im Gegensatz dazu stellte das Mannheimer System, 1910 initiiert durch den dortigen Schulzahnarzt Emil Stein (geb. 1873), ein reines Überweisungssystem dar. Den Zahnärzten in Mannheim wurden Schulbezirke zugewiesen, in denen sie die Kinder in den Schulen jährlich zu untersuchen hatten. In der Folge überwiesen sie die zahnkranken Kinder an niedergelassene Zahnärzte oder nahmen die Behandlung in der eigenen Praxis vor. Eine Nachuntersuchung fehlte völlig. Da dieses System mit weit mehr Aufwand, das heißt auch Eigeninitiative seitens der Kinder und Eltern verbunden war, belief sich der Sanierungsgrad lediglich auf 40 Prozent. Trotz der (freien) Arztwahl, stellte sich somit das Mannheimer System weitaus weniger nachhaltig dar [Kirchoff, Heidel, 2016:249, Kanther, 1998:39–40]. Als eine Art Kompromiss zwischen beiden Systemen kann das Frankfurter-System betrachtet werden. Initiator war der Direktor der städtischen Schulzahnklinik in Frankfurt, der oben bereits genannte Hans-Joachim Tholuck. Kennzeichen des Systems waren jährlich durchgeführte zahnmedizinische Untersuchungen durch Schulzahnärzte. Die Untersuchungen fanden wie im Bonner System in den Schulen statt. Bei Behandlungsbedarf erfolgte jedoch eine Überweisung an niedergelassene Zahnärzte und somit die Einbindung derselben in sozialhygienische Aufgabenbereiche. Das Frankfurter System sah ebenfalls Nachuntersuchungen vor sowie (im Bedarfsfall) eine Behandlung der Restanten. Der Sanierungsgrad belief sich auf rund 70 Prozent [Kirchof, Heidel, 2016:249, Kanther, 1998:40]. AN DER SOZIALHYGIENE AUSGERICHTET Auf Basis der erfolgreichen Entwicklung der Schulzahnpflege machten sich einige Zahnärzte daran, das vergleichsweise junge akademische Fach Zahnmedizin [Krischel, Nebe, 2022] an Fragen der Sozialhygiene [Moser, Schleiermacher, Stöckel, 1996] auszurichten, die die Medizin der Zeit prägten [Heidel, 1995:49]. Wichtige Vertreter dieser Stoßrichtung waren die jüdischen (sozialen) Zahnmediziner Alfred Cohn (1866–1938) und Julius Misch (1874–1942) [Heidel, 1995:46–53]. Einen ersten Meilenstein stellte der Lehrauftrag für „soziale Zahnheilkunde“ an der Universität Berlin dar, den Cohn, der ebenfalls als Generalsekretär des „Deutschen Zentralkomitees für Zahnpflege in den Schulen“ und Schriftleiter des Verbandsorgans „Schulzahnpflege“ fungierte, im Jahr 1919 erhielt [Kirchoff, Heidel, 2016:242]. Julius Misch katalysierte die genannten Entwicklungen vor allem mit seinem zwischen 1925 bis 1933 erschienen Jahrbuch „Die Fortschritte der Zahnheilkunde“, in dem Misch seit 1926 seine programmatischen Schriften zur sozialen Zahnheilkunde veröffentlichte. In Anlehnung an das Konzept der Sozialhygiene bezeichnete er diese als „Zahnärztlich-soziale Hygiene“. Als Kernaufgabe verstand er die Prophylaxe, da „die Zahncaries [...] für viele Volksseuchen nur der Schrittmacher, jedoch schon als Krankheit allein von großem volkswirtschaftlichen Einfluß ist“ [Misch, 1926:465]. Obwohl der von Misch geprägte Terminus Eingang in die zeitgenössischen bibliografischen Klassifikationen nahm, konnte sich der Begriff langfristig nicht durchsetzen, im Gegenteil zu dem von Alfred Cohn geprägten Begriff der sozialen Zahnheilkunde [Heidel 1995: 49–51, Krischel, Halling, 2020:82]. Unter dem Einfluss der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er erfuhr die soziale Zahnheilkunde und mit ihr die sozial ausgerichtete Schulzahnpflege jedoch eine jähe Zäsur [Kirchoff, Heidel: 2016:242]. Mit der Notverordnung vom 26.7.1930 (§27e RVO) kam es zu einer folgenschweren Budgetkürzung im Bereich der Krankenkassen. Dies führte zu einer mitunter völligen Einstellung der kommunalen Schulzahnpflege. Erschwerend hinzu traten die politischen und ideologischen Entwicklungen der 1930er-Jahre, von denen Abb. 2: Vorstand des Organisations-Komitees und des Kongresses der 5. Internationalen Zahnärztekonferenz vom 23.–28. August 1909 in Berlin [Schaeffer-Stuckert, 1909:29] ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden.
RkJQdWJsaXNoZXIy MjMxMzg=