Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 9

zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (883) auch die Zahnmedizin nicht unberührt bleiben sollte. IN DER NS-ZEIT NIEDERGANG DER SCHULZAHNPFLEGE Mit dem Beginn der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft erfuhr die sozial ausgerichtete Schulzahnpflege einen tiefen Einschnitt. Viele ihrer Vertreter waren im sozialistischen oder sozialdemokratischen Spektrum politisch aktiv, viele waren jüdischen Glaubens oder hatten jüdische Vorfahren. Auch die Einbeziehung von im öffentlichen Dienst angestellten Zahnärzten im Bonner und im Frankfurter Modell führte zu erheblichen, wirtschaftlich motivierten Konkurrenzkämpfen innerhalb der Zahnärzteschaft [Krischel, 2021]. Neben den gesundheitspolitischen und berufsstrategischen Entwicklungen innerhalb der NS-Zahnärzteschaft, führten in der Folge auch die erwähnten Etatkürzungen zu einem Niedergang der einstigen Schulzahnpflege. Ein Ideal, das nach dem Zweiten Weltkrieg nach Einschätzung von Wolfgang Kirchhoff und Caris-Petra Heidel nicht wiederhergestellt werden konnte [Kirchoff, Heidel, 2016: 254–261]. Während man in der DDR bewusst an sozialmedizinische Traditionen der Weimarer Republik anschließen wollte [Ernst, 1997] und in diesem Zuge auch in der Zahnmedizin auf die Schulzahnpflege nach dem „Bonner Modell“ setzte, wurde in der Bundesrepublik ab den 1950er-Jahren ein Modell für die „planmäßige Jugendzahnpflege im Bundesgebiet“ entwickelt, das sowohl Schulzahnärzte als auch Niedergelassene einbezog [Mönnich, 2002:17–24]. Auch der Trinkwasserfluoridierung gegenüber war man in der DDR aufgeschlossener als in Westdeutschland [Groß, 2021: 56–59, Künzel, 2009:62; Rosenthal, Hoffmann-Axthelm, 1955: 97–102]. In der Folge ließ sich bis in die 1990er-Jahre in Ostdeutschland eine niedrigere Kariesprävalenz bei Kindern und Jugendlichen nachweisen [Splieth et al., 2019:613]. DER WEG ZU DENTAL PUBLIC HEALTH VON HEUTE Sind die Ideale einer sozialen Zahnmedizin heute, etwas über 100 Jahre nach dem ersten universitären Lehrauftrag für das Fach in Deutschland, in Vergessenheit geraten? Einige Fachvertreterinnen und Fachvertreter sind dieser Meinung – angesichts von Versorgungsdefiziten, die vulnerable Gruppen, wie Kinder und Jugendliche aus bildungsfernen Schichten oder mit Migrationsgrund, betreffen [Kirchoff, Heidel, 2016:270]. Gleichzeitig wächst aber in den vergangenen Jahrzehnten international und in Deutschland das Interesse an diesem Bereich, der nun regelmäßig als „Dental Public Health“ firmiert. Ausdrücklich werden hier die Prävention mit einem Fokus auf sozioökonomische und medizinische Risikogruppen sowie das Verhältnis zwischen oraler und allgemeiner Gesundheit in den Blick genommen [Ziller, Oesterreich, 2007]. Ein Anschluss an die sozial(zahn)medizinische Tradition der Weimarer Republik wird jedoch nicht immer gesucht. Eine Arbeitsgruppe innerhalb der Deutschen Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention untersucht „soziokulturelle Determinanten der Mundgesundheit (zum Beispiel soziale Ungleichheit, Migration, Mundgesundheitskompetenz)“ und versucht, die Entscheidungskompetenz von Patientinnen und Patienten sowie deren Selbstwirksamkeitserwartung zu stärken [Deutsche Gesellschaft für Sozialmedizin und Prävention e.V, 2022]. Und auch bei der Formulierung der Mundgesundheitsziele für Deutschland bis zum Jahr 2030 spielen mit verhaltens- und verhältnispräventiven Maßnahmen – Mundgesundheitsaufklärung, Reduktion von Tabakund Alkoholkonsum, Erhöhung der Verbreitung fluoridierten Speisesalzes und Verbesserung der gruppenprophylaktischen Betreuung von Kindergartenkindern, Grund- und Förderschülern – sozial(zahn)medizinische Fragen zentrale Rollen. Ausdrücklich bringen die Autoren eines Positionspapiers zum Thema Mundgesundheitsziele – Experten aus dem Haus der Bundeszahnärztekammer – diese Aspekte in einen Zusammenhang mit der „soziale[n] und berufsethische[n] Verantwortung des zahnärztlichen Berufsstandes“ [Ziller, Oesterreich, Jordan, 2021]. \ JULIA NEBE, M.A. Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin Centre for Health and Society, Medizinische Fakultät, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf Moorenstr. 5, 40225 Düsseldorf julia.nebe@hhu.de Foto: pirvat Abb.3: Schulzahnklinik in Düsseldorf um 1913 Foto: Kehr, F. (ca. 1913): Erster Jahresbericht städtischer Schulzahnklinik zu Düsseldorf. GESELLSCHAFT | 73

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