Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 9

zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (884) KI IN DER ZAHNARZTPRAXIS – TEIL 3 Sensitivität und Spezifität: Was ist wann wichtig? Falk Schwendicke, Joachim Krois Sensitivität und Spezifität sind zwei wichtige Parameter für die Erkennungsgenauigkeit diagnostischer Methoden. Im Fall von KI-gestützter Diagnostik dienen diese Parameter auch als Maßzahl für die Qualität des Systems. Doch wann welcher Wert relevant ist, hängt von mehreren Faktoren ab. Der Beitrag zeigt, mit welchen Abwägungen die Fähigkeiten eines KI-Systems in die eigenen diagnostischen und therapeutischen Überlegungen integriert werden können. KI-Anwendungen werden üblicherweise, zumal wenn sie – wie die Mehrzahl der heutigen KI-Anwendungen in der Medizin – aus dem Bereich der Diagnoseunterstützung oder Vorhersage stammen, mit bestimmten Kennziffern zur Erkennungsgenauigkeit charakterisiert. Diese Kennziffern leiten sich aus sogenannten Diagnostikgenauigkeitsstudien ab, bei denen beispielsweise auf Röntgenbildern eine bestimmte Pathologie (wie Karies oder apikale Läsionen) detektiert werden soll. Dabei wird die KI-Anwendung gegen einen sogenannten Goldstandard bewertet; KI-Entscheidungen können demnach \ wahr-positiv (Test lag richtig – Karies vorhanden), \ wahr-negativ (Test lag richtig – Karies nicht vorhanden), \ falsch-positiv (Test lag falsch – Karies nicht vorhanden) oder \ falsch-negativ (Test lag falsch – Karies vorhanden) sein. Aus einer daraus generierten sogenannten Vierfeldertafel werden dann charakteristische Maßzahlen wie die Genauigkeit (also die Prozentzahl der korrekten Klassifikationen), die Sensitivität (also die Prozentzahl der erkannten kranken Fälle) und die Spezifität (ein Maß für die falsch-positiv Rate) abgeleitet (Abbildung 1). WELCHE MAßZAHLEN SIND WANN RELEVANT? Eine zentrale Frage ist nun, welche dieser Maßzahlen für die Nutzer, also Zahnärztinnen und Zahnärzte, relevant sind. Hierzu muss man sich vor Augen führen, um welche Erkrankungen es geht: Im Bereich der Zahnmedizin haben wir es beispielsweise mit der Karies um eine langsam voranschreitende Erkrankung zu tun, bei der die Diagnostik regelmäßig (üblicherweise in 6- bis 12-monatigen Intervallen für die visuell-taktile Inspektion und in 18- bis 36-monatigen Intervallen für die Röntgendiagnostik, zumindest bei geschlossenen Zahnreihen) durchgeführt wird. Ausgehend von der geringen Progressionsgeschwindigkeit vor allem früher kariöser Läsionen und ausgehend davon, dass der Zahnarzt regelmäßig nach diesen Läsionen „fahndet“, ist es demnach teilweise akzeptabel, einen gewissen Prozentsatz von Läsionen zu übersehen (begrenzte Trefferquote der Erkrankten, Sensitivität) – ist doch die Gefahr, dass diese Läsion bis zur nächsten Detektion voranschreitet, relativ gering. Bei der Spezifität (Trefferquote der Gesunden) verhält es sich möglicherweise andersherum: Gerade in vielen jüngeren Bevölkerungsgruppen ist die Wahrscheinlichkeit, überhaupt kariöse Läsionen anzutreffen, zunehmend geringer. So weisen zwölfjährige Kinder laut der Fünften Deutschen Mundgesundheitsstudie kaum noch kavitierte Karies auf; die Wahrscheinlichkeit, in dieser Gruppe bei einer visuell-taktilen Befundung Karies anzutreffen, ist demnach relativ gering. Für frühe Karies kann einerseits eine hohe Sensitivität angestrebt werden – dann sollte die detektierte frühe Karies aber auch nicht invasiv therapiert werden. Wenn nur invasive Optionen zur Verfügung stehen, ist wiederum die Spezifität wichtiger – um Schaden von gesunden Zahnflächen abzuwenden. PROF. DR. FALK SCHWENDICKE, MDPH Leiter der Abteilung für Orale Diagnostik, Digitale Zahnheilkunde und Versorgungsforschung Centrum 3 für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde, Charité – Universitätsmedizin Berlin Aßmannshauser Str. 4–6, 14197 Berlin Foto: privat KI IN DER ZAHNARZTPRAXIS Erste Anwendungen mit Künstlicher Intelligenz (KI) für die Zahnarztpraxis gibt es inzwischen, doch noch immer herrscht viel Unsicherheit darüber, was KI eigentlich ist und leisten kann. Was können Zahnärztinnen und Zahnärzte vom Einsatz einer KI im Alltag erwarten? Welchen Mehrwert kann ein solches Werkzeug bringen? In der Reihe „KI in der Zahnarztpraxis“ erörtern Experten Fragen zum Verständnis der KI. 74 | ZAHNMEDIZIN

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