zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (889) der Homöopathie geläufig – wurden im Teil 1 dieses Beitrags wiedergegeben. Übergeordnete Aspekte finden sich in Abbildung 1. So wie es auf spezifischer Ebene fast keine Wirkungen ohne Nebenwirkungen gibt, so existieren auf der unspezifischen Ebene kaum PlaceboEffekte ohne Nocebos, die quasi als die Kehrseite der Medaille fungieren. Dabei spielt es zunächst keine Rolle, ob die oben genannten Sorgen begründet oder unbegründet sind. Man muss davon ausgehen, dass bei vielen ärztlichen und zahnärztlichen Interventionen aller (sic!) medizinischen Richtungen unbewusst oder bewusst nicht nur Placebo-, sondern auch Noceboeffekte auftreten. So können Nocebos ins Spiel kommen, wenn einem Patienten im Rahmen der Aufklärung die negativen Folgen einer unterlassenen Behandlung besonders drastisch dargestellt werden, um ihn zu einem als indiziert erachteten Eingriff besser zu motivieren. Wohlgemeinte Hinweise, beispielsweise auf die Folgen einer belassenen Zahnlücke mit massiven Schäden für das vorhandene Gebiss, Funktionsstörungen bis hin zu weiterreichenden Beschwerden wie Muskelverspannungen, Kopfschmerzen oder gar Tinnitus, mögen zu einer korrekten Behandlungsentscheidung im Sinne eines Lückenschlusses führen. Man muss sich aber darüber im Klaren sein, was passiert, wenn der Patient zwar von der zahnärztlichen Aufklärung beeindruckt wird und darüber nachdenkt, aber dennoch eine andere Entscheidung trifft und – aus welchen Gründen auch immer – die Lücke belässt. Die in der Folgezeit eventuell verstärkt auftretende Empfindung unklarer Symptome wie Verspannungserscheinungen, die vorher kaum Probleme bereiteten, lässt sich im Sinne eines Noceboeffekts interpretieren. Bei der Beratung und Aufklärung von Patienten sollte deshalb darauf geachtet werden, unangemessene Erwartungen einerseits und übertriebene Angstreaktionen andererseits zu vermeiden [Staehle, 2013b; zm, 2022b]. Besonders problematisch sind Noceboeffekte, wenn sie auf wissenschaftlich nicht abgesicherten Behauptungen beruhen. Dazu zählen beispielsweise Verlautbarungen, dass Zähne und umliegende Kieferknochen, auch wenn sie sich klinisch und in bildgebenden Verfahren unauffällig darstellen, zu „Vergiftungen“ und damit einhergehenden Allgemeinerkrankungen führen. Auch bei einer Nocebo-Placebo-betonten Medizin kann eine unspezifische von einer spezifischen Ebene begleitet werden. Die unspezifische Ebene kann in drei Schritten ablaufen: 1. Schritt: Aufgreifen von zunächst allgemein gehaltenen, durch Medien oder Praxisverlautbarungen gestreuten Ängsten (beispielsweise vor Dentalmaterialien) bei Patienten mit unklaren Beschwerden zur ersten Anbahnung von Noceboeffekten. 2. Schritt: Anwendung fragwürdiger Testmethoden wie beispielsweise Applied Kinesiology oder ähnlichem zum Aufbau beziehungsweise zur weiteren Verfestigung von Noceboeffekten. 3. Schritt: Behandlung der iatrogen erzeugten Noceboeffekte mit PlaceboMethoden (zum Beispiel homöopathische „Ausleitungs- und Entgiftungsprozeduren“). Auf der spezifischen Ebene kann es zu parallel ablaufenden zahnärztlichen Eingriffen kommen wie zum Beispiel \ Austausch intakter zahnärztlicher Restaurationen, \ Entfernung erhaltungswürdiger, strategisch wichtiger Zähne, \ Ausfräsung von Kieferknochen. Derartige Vorgehensweisen können keineswegs als „sanfte und schonende Medizin“ eingestuft werden, auch wenn sie sich seit Langem als „menschlich und dem Patienten besonders zugewandt“ darstellen [Windeler, 1992]. HERAUSFÜHRUNG AUS DEM CIRCULUS VITIOSUS Bei Patienten, die – durch welche Umstände auch immer – in einen alternativ-, komplementär- oder integrativmedizinischen Circulus vitiosus geraten sind und dadurch bereits gesundheitliche Schäden erlitten haben, ist es zur Vermeidung weiterer Gebisszerstörungen anstrebenswert, sie aus diesem Umfeld herauszuführen und wieder in eine sachgerechte zahnmedizinische Versorgung einzufügen. Dies ist vor allem dann eine große Herausforderung, wenn die Patienten in ein alternativ-, komplementär- oder integrativmedizinisches Netzwerk verschiedener Fachrichtungen gelangt sind, aus dem sie sich ohne Hilfe nur schwer befreien können. Im Folgenden wird das Vorgehen anhand der Behandlung und Betreuung einer 48-jährigen Patientin beschrieben (Abbildung 2): Die anfangs gesunde Frau war seit Jahrzehnten mit Amalgamrestaurationen versorgt, die sie ohne Einschränkungen tolerierte. Dennoch ließ sie sich sämtliche intakten Restaurationen entfernen und durch Keramik-Inlays sowie VMKKronen ersetzen, da ihr dies von einem alternativmedizinisch orientierten Behandler aus Gründen des „vorbeugenden Gesundheitsschutzes“ angeraten worden war. Aus ungeklärter Ursache traten unter anderem am Zahn 36 Schmerzen im Sinne postoperativer Sensibilitäten auf, so dass dort schließlich nur noch diverse instabile provisorische Restaurationsmaterialien zum Einsatz kamen. Der Patientin war auf der Grundlage fragwürdiger Testmethoden vermittelt worden, sie leide unter einer „Unverträglichkeit“ PROF. DR. DR. HANS JÖRG STAEHLE Poliklinik für Zahnerhaltungskunde der Klinik für Mund-, Zahn- und Kieferkrankheiten des Universitätsklinikums Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg hansjoerg.staehle@med.uni-heidelberg.de Foto: Uniklinikum Heidelberg ZAHNMEDIZIN | 79
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