zm112, Nr. 9, 1.5.2022, (892) tive Maßnahmen möglichst offensiv, chirurgische und restaurative Eingriffe hingegen möglichst defensiv anzugehen, erfolgreich umgesetzt. Die Zähne sind nach einer Beobachtungsdauer von nunmehr 28 Jahren noch in situ (Abbildung 2f). Die inzwischen 76-jährige Patientin erscheint regelmäßig zum Recall. Allgemeinmedizinisch ist sie gesund, es bestehen keine Hinweise auf eine Erkrankung der Bauchspeicheldrüsen oder des Enddarms. Nach einer sukzessiven Verfestigung des Vertrauensverhältnisses konnten inzwischen bei der zahnärztlichen Versorgung auch die von der Patientin aufgrund der alternativmedizinisch verursachten Noceboeffekte anfangs abgewehrten Kompositkunststoffe ohne jegliche negative Reaktionen zum Einsatz kommen. Das entscheidende Anliegen war es, die Patientin aus einem alternativmedizinischen „Circulus vitiosus“ herauszuführen („Debonding“) und eine neue, tragfähige Arzt-PatientBeziehung auf der Grundlage der Patientenautonomie, der Benefizienz und der Non-Malefizienz aufzubauen [Groß, 2012]. GESELLSCHAFTSPOLITISCHE DISKUSSION Es ist seit geraumer Zeit ein bemerkenswertes Phänomen zu beobachten. Einige der oben beschriebenen Verfahren halten zwar einer seriösen Prüfung nicht stand und haben zuweilen einen von Intoleranz und Fundamentalismus geprägten weltanschaulichen Hintergrund. Dennoch wurden (und werden) die dahinter stehenden Denkrichtungen von zahlreichen gesellschaftlichen Kreisen und Institutionen (einzelnen Parteien, Verbänden, Universitäten, Fortbildungseinrichtungen, Verlagen, Herstellern pharmazeutischer Präparate und anderen) wohlwollend aufgenommen und sogar unterstützt. So gab es in den politischen Parteien über das gesamte Spektrum hinweg (von weit links bis rechts) Vertreter, die sich für alternative Verfahren einsetzten. Noch 2017 sprach sich die gesundheitspolitische Sprecherin der Partei DIE LINKE, Kathrin Vogler, dafür aus, dass etwa Homöopathika trotz fehlender wissenschaftlicher Nachweise „klar“ als Arzneimittel einzustufen seien. Sie unterstützte sogar deren Apothekenpflichtigkeit, um sie vor „esoterischer Blasenbildung“ zu schützen [DAZ-online, 2017]. Der gesundheitspolitische Sprecher der AFD, Axel Gehrke, bekannte sich 2019 zur Homöopathie, da sie besonders „effektiv und kostensparend“ sei [Gehrke, 2019]. Aktuell scheinen sich in der politischen Landschaft der Parteien Verschiebungen abzuzeichnen. Wie sich die weitere Entwicklung gestalten wird, bleibt abzuwarten. Es gab und gibt auch immer wieder kritische Stimmen [Bartens, 2022; Bosch, 2022; zm, 2022a], Streitereien und Konflikte (aktuell beispielsweise das Auslaufenlassen der Zusatzbezeichnung Homöopathie durch einige Ärztekammern), aber insgesamt hat sich die Situation in Richtung eines sich tolerierenden Miteinanders entwickelt. Wie bereits ausgeführt, firmiert die „Alternativmedizin“, die sich ursprünglich als Alternative oder gar „Feind“ zur „Schulmedizin“ sah, heute unter der Etikette „Komplementär-/Integrativmedizin“, die die Evidenz-gestützte Medizin zumindest nach außen hin nicht mehr bekämpft, sondern nur noch „ergänzt“ und „integriert“. Teile der „etablierten Medizin“ sind in die Defensive geraten und erkennen im Gegenzug die „geläuterte“ Alternativmedizin an. Sie tragen dazu bei, diese Sparte salonfähig zu machen. Aus Gegnern werden Partner, die sich gegenseitig respektieren, anerkennen und miteinander kooperieren. Ein immer wieder gebrauchtes Argument für Nachsichtigkeit gegenüber dem Fehlen von wissenschaftlichen Wirkungsnachweisen ist unter anderem die Nachfrage der Patienten. Große gesetzliche Krankenkassen – wie zum Beispiel die TK und die AOK – unterstützen die Homöopathie und andere alternativmedizinische Verfahren. So wirbt die AOK bis heute unvermindert für die klassische Homöopathie [AOKplus, 2022]. Es liegt auf der Hand, dass dieses Engagement von Akteuren, die ansonsten vehement wissenschaftliche Evidenz einfordern, alternativmedizinische Angebote zusätzlich popularisiert. Das hat dann auch Folgewirkungen auf andere Bereiche und alte, schon längst beantwortet geglaubte Fragen werden wieder aktuell: \ Kann man von der Industrie erwarten, Unkosten durch Forschungsaktivitäten zu vergrößern, wenn ihr das der Gesetzgeber bei Angeboten der „besonderen Therapierichtungen“ ausdrücklich erspart? \ Kann man es Ärzten und Zahnärzten verübeln, dass sie wissenschaftlich fragwürdige Methoden, die in ihrem Studium oder in der Fortbildung wohlwollend unterrichtet wurden, in ihr (zahn)medizinisches Angebot aufnehmen? \ Ist es unethisch, mit „ganzheitsmedizinischen“ Angeboten den Weg in die so oft beschworene Eigenverantwortung (= Erhöhung von Selbstzahlerleistungen) zu ebnen? \ Ist es nicht zu begrüßen, wenn es den relevanten Playern gelingt, den medizinischen „Wachstumsmarkt“ auch mit alternativmedizinischen Ansätzen anzukurbeln? FAZIT Es gibt viele gute Gründe, in der Medizin und Zahnmedizin einen lebendigen Pluralismus im Sinne eines regen wissenschaftlichen Austauschs und auch die – mitunter leidenschaftlich geführte – Debatte um die „besten“ Behandlungen zu pflegen. Es sind in der Medizingeschichte zahlreiche wichtige Erkenntnisse bekannt, die als Minderheitenposition begonnen haben und sich gegen die Skepsis des Etablierten durchsetzen mussten. Die Vielfalt medizinischer Denkmodelle darf jedoch nicht als Freifahrtschein missverstanden werden, einzelnen Interventionen die Forderung nach Wirksamkeitsnachweisen unter sorgfältiger Abwägung der Nutzen-Risiko-Relation zu ersparen. Ansonsten drohen mannigfaltige Gefahren für Patientenmanipulationen und -schädigungen. Diese reichen über Nocebo-Placebo-Effekte und den Missbrauch von Patientenvertrauen bis hin zu Scharlatanerie und Geschäftemacherei. Diese Feststellung gilt nicht nur für alternativmedizinische Verfahren, sondern für alle Richtungen der Medizin. \ 82 | ZAHNMEDIZIN
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