zm112, Nr. 10, 16.5.2022, (968) ENTWICKLUNGEN BEI DER ENDOKARDITISPROPHYLAXE Die Mundhöhle als Eintrittspforte von Keimen wurde erstmals 1909 postuliert [Horder, 1909; Cahill et al., 2017] und bereits 1923 wurde ein ursächlicher Zusammenhang zwischen invasiven Zahnbehandlungen und Endokarditis vermutet [Dayer & Thornhill, 2018; Cahill et al., 2017; Lewis & Grant, 1923]. Wenige Jahre später wurde die Bakteriämie von Streptokokken mittels Blutkulturen nach Zahnbehandlungen nachgewiesen [Dayer & Thornhill, 2018; Okell & Elliot, 1935]. Eine antibiotische Prophylaxe wurde erstmalig 1941 eingesetzt und bereits 1955 folgte die erste grundlegende Empfehlung zur Endokarditisprophylaxe durch die American Heart Association (AHA) [Jones et al., 1955; Wilson et al., 2007], der mittlerweile neun Aktualisierungen folgten. Die Endokarditisprophylaxe stellte damit über Jahrzehnte den Prototyp der antibiotischen Prophylaxe in der Zahnheilkunde (und in der gesamten Chirurgie) dar und war als grundlegendes, regelrecht dogmatisches Konzept über lange Zeit „nicht hinterfragbar“. Den Höhepunkt der antibiotischen „Intensität“ erreichte die Entwicklung im Zeitraum von 1957 bis 1960 mit mehrfachen parenteralen (bis zu 21) Medikamenten-Dosen über fünf Tage bei vielen Indikationen, auch bei moderaten und geringen Risiken. Danach wurden die Empfehlungen schrittweise deeskaliert bis zur aktuellen singulären präoperativen Gabe auch bei höchsten Risiken oder sogar dem gänzlichen Verzicht. ZWEIFEL AN DEN PATHOGENETISCHEN ZUSAMMENHÄNGEN Die Relevanz der antibiotischen Endokarditisprophylaxe in der Zahnheilkunde wurde etwa ab der Jahrtausendwende verstärkt infrage gestellt, nachdem wiederholt gezeigt werden konnte, dass nicht nur invasive Zahnbehandlungen, sondern auch Maßnahmen der Mundhygiene [Poveda-Roda et al., 2008; Lockhart et al. 2008; Zhang et al., 2013] und sogar das Kauen bei stark parodontal erkrankter Dentition zu einer Bakteriämie führen. Vor diesem Hintergrund einer kontinuierlichen Keimeinschleppung im täglichen Leben erschien es wenig plausibel, dass ein vergleichsweise seltenes Ereignis wie eine Zahnentfernung oder eine invasive Parodontalbehandlung zu einem relevanten Anteil an der Entstehung von Endokarditiden beitragen könne. Darüber hinaus wurde auch immer wieder das Schreckgespenst der Antibiotika-assoziierten Komplikationen, insbesondere der potenziell letalen Anaphylaxie beschworen [Farbod et al., 2007; Hafner et al., 2020]. Mitunter wurde postuliert, dass das Risiko des Versterbens an einer Amoxicillin-bedingten Anaphylaxie, verursacht durch die Prophylaxe, um ein Mehrfaches über dem Risiko der Endokarditis liegen würde [Ashrafian & Bogle, 2007]. Andererseits ließ sich ein Zusammenhang zwischen Zahnbehandlungen und dem Auftreten von Endokarditiden aber auch nicht abstreiten und war aus zahlreichen Fallkontrollstudien plausibel abzuleiten. Ein nach Gesichtspunkten der evidenzbasierten Medizin methodisch stringenter Nachweis in der Form einer prospektiv randomisierten Interventionsstudie lässt sich, wie bereits eingangs erwähnt, aus biometrischen und auch aus ethischen Gründen kaum realisieren und würde mit Wahrscheinlichkeit auch an der fehlenden Akzeptanz scheitern. DIE ZEITENWENDE 2007/2008: NEUE EMPFEHLUNGEN Mit der letzten Revision der Endokarditisprophylaxe-Empfehlungen der American Heart Association [Wilson et al., 2007] und der konzeptionell in großen Teilen inhaltsgleichen Adaptierung in vielen kontinentaleuropäischen Ländern [Habib et al., 2009] wurde die Endokarditisprophylaxe in diesen Ländern auf die Gruppe der Patienten mit hohem Endokarditisrisiko begrenzt. Eine noch wesentlich radikalere Abkehr von der bisherigen Praxis setzte das staatliche Gesundheitssystem (NHS) Großbritanniens auf der Basis einer Empfehlung des National Institute for Health and Clinical ExcelPROZEDUREN IN DER ZAHNHEILKUNDE, FÜR DIE EINE ENDOKARDITISPROPHYLAXE EMPFOHLEN WIRD Zahnextraktion/Osteotomie/Wurzelspitzenresektion/Implantation Professionelle Zahnreinigung / Scaling Biopsien/Schleimhauteingriffe/Resektionen Intraligamentäre Anästhesie, Injektion in infiziertes Areal Maßnahmen mit Manipulation an der Gingiva: – Platzieren und Entfernen kieferorthopädischer Bänder – Retraktionsfäden – Separieren von Zähnen Endodontische Behandlungen Tab. 2a, Quelle: Kunkel, 2021 PROZEDUREN IN DER ZAHNHEILKUNDE, FÜR DIE EINE ENDOKARDITISPROPHYLAXE NICHT EMPFOHLEN WIRD Lokalanästhesie in gesundem Gewebe Supragingivale Maßnahmen: – Platzieren kieferorthopädischer Brackets – supragingivale Präparation, Exkavation oder Restauration Nahtentfernung bei nicht infizierten Wunden Tab. 2b, Quelle: Kunkel, 2021 50 | ZAHNMEDIZIN
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