zm112, Nr. 10, 16.5.2022, (970) ließ, in der Folgezeit nach 2008 nur noch abgeschwächt fortgesetzt hat [Thornhill et al., 2018]. Allerdings ließ sich diese Trendwende nicht in der Gruppe der Patienten mit niedrigem Risiko erkennen. Da sich in dieser Gruppe die Leitlinienänderungen zur Prophylaxe am ehesten ausgewirkt hätten, stellen die Daten nach Meinung der Autoren die Grundsätze der aktualisierten Leitlinie nicht infrage. KANADA Im Gegensatz zu den USA ließ sich in Kanada über knapp eineinhalb Jahrzehnte eine deutliche Zunahme der Endokarditisinzidenz nachweisen, wobei Change-Point-Analysen den Wendepunkt der Entwicklung für das Jahr 2010 erkennen ließen [Garg et al., 2019]. Aus diesem „späten“ Wendepunkt (drei Jahre nach der Neuauflage der AHA-Leitlinie) und der Tatsache, dass der Anstieg vor allem die Hochrisikopopulation betrifft, deren Prophylaxe-Indikationen durch die Leitlinienänderungen gerade nicht betroffen waren, leiteten Garg et al. ab, dass der Anstieg der Endokarditishäufigkeiten nicht durch die Änderung der Leitlinienempfehlungen erklärt werden kann. Kritiker wenden allerdings ein, dass der über die Jahre gleichbleibende Anteil an Streptokokken-Endokarditiden und damit ein relevanter Anteil der Zunahme durchaus auf die Reduktion der Prophylaxe zurückgeführt werden kann. Tatsächlich müsste nämlich der Anteil dieser am ehesten oralen/ odontogenen Keimflora zurückgehen, wenn andere Endokarditisursachen in den Vordergrund treten [Peterson & Crowley, 2019]. Auch der verspätete Anstieg spricht nicht unbedingt gegen einen Einfluss der Leitlinienänderung, da sich die Auswirkungen auf die Endokarditisrate, sowohl primär durch die Dauer der Implementierung als auch sekundär durch die Vergrößerung der Zahl von Hochrisikopatienten nach einem Erstereignis, erst mit Verzögerungen manifestieren. Darüber hinaus entsteht mit der Beschränkung der ProphylaxeIndikation auf eine besondere Risikogruppe naturgemäß auch die Gefahr einer fehlerhaften Zuordnung von Patienten. Wird beispielsweise ein Patient mit einem hohen Endokarditisrisiko fehlerhaft der Gruppe mit niedrigem oder moderatem Risiko zugeordnet, erhält er nach der aktuellen Leitlinie keine Antibiotikaprophylaxe mehr. Damit würde sich ein solcher Zuordnungsfehler tatsächlich auswirken können. In der früheren Version der Leitlinie hätte ein solcher Fehler die Medikation nicht verändert, das heißt die frühere Leitlinienversion war „robuster“ gegen Fehler in der Klassifikation. GROßBRITANNIEN In Großbritannien ist es seit dem vollständigen Verzicht auf eine routinemäßige Endokarditisprophylaxe zu einem deutlichen und hoch signifikanten Anstieg der Endokarditishäufigkeit gekommen; konkret hat die Inzidenz von 44,5/1.000.000 im Jahr 2007 auf 67,7/1.000.000 im Jahr 2017 und die Gesamtfallzahl von 2.268 (in 2007) auf zuletzt 3.746 (in 2017) zugenommen. Auch in Großbritannien blieb dabei der Anteil der Streptokokken-Endokarditiden über die Jahre gleich. Während Dayer et al. bereits 2015 einen Wendepunkt der Entwicklung kurz nach der Entscheidung gegen die Endokarditisprophylaxe identifiziert hatten [Dayer et al., 2015], sehen Quan et al. im Jahr 2020 keinen singulären Wendepunkt, sondern eine Folge von Wendepunkten, teilweise vor und teilweise nach der Richtungsentscheidung [Quan et al., 2020]. Da die Bestimmungen der Wendepunkte in hohem Maße von den gewählten statistischen Modellparametern abhängig ist, ist es sehr schwierig zu bewerten, welche Aussage der Realität näher kommt, zumal in der Frage der Endokarditisprophylaxe mittlerweile exemplarisch die Glaubwürdigkeit des NICE auf dem Prüfstand steht und die ursprünglich wissenschaftliche Diskussion damit im Laufe der Zeit auch eine politische Dimension angenommen hat. Tatsächlich veränderte das NICE seine eindeutige Position gegen eine zahnärztliche Endokarditisprophylaxe im Sommer 2016. Aus der Formulierung „Antibiotic prophylaxis against infective endocarditis is not recommended for people undergoing dental procedures“ wurde „Antibiotic prophylaxis against infective endocarditis is not recommended routinely for people undergoing dental procedures”. Diese Änderung entstand im zeitlichen Zusammenhang mit einer durch einen englischen Parlamentsabgeordneten unterstützten Petition von Angehörigen, deren Ehepartner durch Endokarditiden verstorben waren [Thornhill et al., 2016]. ZU GEFAHREN DURCH DIE ENDOKARDITISPROPHYLAXE Ein wesentlicher Anlass, den Nutzen der Endokarditisprophylaxe zu hinterfragen, war traditionell die Furcht vor schweren Nebenwirkungen der eingesetzten Antibiotika, insbesondere die Erwartung einer hohen Rate schwerer anaphylaktischer Reaktionen auf Amoxicillin mit potenziell tödlichem Ausgang [Wilson et al., 2007; Naber et al., 2007]. Diese Bedenken schienen vor dem Hintergrund vermeintlich hoher Allergieraten um fünf bis zehn Prozent in vielen westlichen Industrieländern sehr plausibel und wurden auch bei anderen prophylaktischen Antibiotikaindikationen immer wieder mit Vehemenz vorgetragen. Tatsächlich hat sich allerdings über nunmehr gut zwei Jahrzehnte bestätigt, dass die weitaus überwiegende Zahl vermeintlicher Penicillinallergien Fehldiagnosen darstellen, die durch primär fehlerhafte Zuordnung von Symptomen entstanden sind und in der Folgezeit nie ausgeräumt wurden. Mitunter werden solche vermeintlichen Allergiediagnosen mit der laienhaften Erwartung verbunden, anstelle des „alten“ Penicillins ein besseres, „modernes“ Antibiotikum zu erhalten. Die Bedeutung des „Besitzstands“ einer Penicillinallergie auch nach deren definitivem Ausschluss mittels kontrollierten Provokationsversuchen wurde beispielsweise daran deutlich, dass 70 Prozent der Probanden mit dem Wegfall der Allergiediagnose unzufrieden waren [Savic et al., 2019]. In anderen Studien zeigte sich eine Tendenz, widerlegte Penicillinallergie-Diagnosen wieder in die Krankengeschichte aufzunehmen [Rimavi et al., 2013]. 52 | ZAHNMEDIZIN
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