Zahnärztliche Mitteilungen Nr. 11

zm112, Nr. 11, 1.6.2022, (1074) FORTBILDUNG „ANTIBIOTIKA UND RESISTENZENTWICKLUNGEN“ Die Phagentherapie – ein Ausweg aus der Antibiotika-Krise? Finja Rieper, Imke Korf, Sarah Wienecke, Holger Ziehr Der Anstieg der Antibiotikaresistenzen verstärkt die Suche nach Alternativen und lässt das Interesse an Phagentherapien wieder aufleben. Phagen sind bakterienspezifische Viren und besitzen das Potenzial, gefährliche Bakterien zu zerstören. Doch bislang wurde in Europa noch kein phagenbasiertes Medikament zugelassen. Derzeit sterben laut einer aktuellen Studie in Europa rund 30.000 Menschen jährlich an Infektionen, die durch antibiotikaresistente Bakterien verursacht werden. Werden nicht in naher Zukunft neue Therapieoptionen geschaffen, wird diese Zahl in den kommenden Jahren stark ansteigen [Cassini, 2019]. Unabhängig von der bedrohlichen Lage der Resistenzentwicklung gibt es jedoch auch Infektionen, die durch Antibiotika schwer zu behandeln sind. Sind Biofilme in die Infektion involviert, kann die Wirksamkeit von Antibiotika stark reduziert sein [Zimmerli, 2004]. Auch nimmt die Anwendung von Antibiotika einen großen Einfluss auf die Zusammensetzung des Mikrobioms, wodurch sich wiederum andere unerwünschte Bakterien etablieren können [Nylund, 2011]. Ergänzungen und Alternativen zur Behandlung von bakteriellen Infektionen werden dementsprechend dringend benötigt. ENTDECKUNG DER PHAGEN UND ERSTE ANWENDUNGEN In der mikrobiologischen Lebenswelt gibt es ein bemerkenswertes Phänomen: Eine Kultur von Bakterien kann scheinbar aus den Nichts heraus zerstört werden, wenn diese mit einer Probe gemischt wird, die einen entscheidenden Bestandteil enthält – Phagen, die mittels der sogenannten Lyse (Lyse = Auflösen) Bakterien zerstören können. Dieses lytische Phänomen auf bakterielle Kulturen ist schon lange bekannt, auch wenn zunächst über die genaue Ursache nur spekuliert werden konnte. Unabhängig voneinander wurden Phagen von dem Engländer Frederick William Twort und dem Frankokanadier Felix d´Hérelle vor gut 100 Jahren entdeckt. Als Direktor der Drown Animal Sanatory Institution in London forschte der Bakteriologe Twort an Infektionskrankheiten beim Nutztier. 1915 beobachtete er in einem Ausstrich Staphylokokkenkolonien mit ungewöhnlichem Aussehen. Unter dem Lichtmikroskop waren nur zerstörte Bakterienzellen zu erkennen. Nach einer Filtration dieser Proben konnte er das zufällig entdeckte lytische Phänomen auf neue Kulturen übertragen [Duckworth, 1976]. Der Mikrobiologe d´Hérelle entdeckte 1910 bei der Kultivierung von Enterobacter cloacae „Löcher“ im Bakterienrasen, deren mikroskopische Untersuchung keine Klärung des Phänomens lieferte. Auch d’Hérelle war sich der Übertragbarkeit des lytischen Prinzips auf neue Kulturen bewusst, jedoch veröffentlichte er seine Ergebnisse zu diesem Zeitpunkt nicht, da er keine Erklärung dafür hatte und diese teilweise schlecht reproduzierbar waren. Während des Ersten Weltkriegs forschte d´Hérelle am Institut Pasteur in Paris an Patienten mit bakterieller Dysenterie (Darmentzündung/Durchfallerkrankung – „Ruhr“, Erreger: Shigella dysenteriae). Er nahm Stuhlproben und filtrierte sie. Anschließend gab er diese zu Shigella-dysenteriaeKulturen und beobachtete das Wachstum der Bakterien. Während der ersten Krankheitsphase wuchsen die Bakterien unverändert gut. Erst bei Eintreten der Genesung der Patienten konnten die Bakterien nicht mehr kultiviert werden. Irgendein unbekannter, „lytischer“ Prozess hatte zwischenzeitlich die Bakterien zerstört. In seiner ersten Publikation (1917) schuf er deshalb den Begriff „Bakteriophage“. Bakteriophage bedeutet wörtlich übersetzt „Bakterienfresser“ und setzt sich zusammen aus den griechischen Worten „Bakterium“ und „phagein“ (= fressen). Er konnte nicht beobachten, dass sich die vermuteten Phagen von selbst im Medium vermehren. Dies erfolgt erst, wie man heute weiß, wenn spezifische Bakterien als Wirt hinzugeben werden [Duckworth, 1976; d´Herelle, 1917]. Die Anwendung von Phagen wurde von d´Hérelle zuerst erfolgreich veterinärmedizinisch untersucht. Danach verabreichte er bereits 1919 oral Phagenlysate an vier totgeglaubte Kinder mit bakterieller Dysenterie, ZM-LESERSERVICE Die Literaturliste kann auf www.zm-online.de abgerufen oder in der Redaktion angefordert werden. 48 | ZAHNMEDIZIN

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